Evolution
kleiner
noch als Millos Kopf; er musste einem Kind gehört haben.
»Wo hast du das gefunden?«
»Im Boden«, flüsterte sie. »Vorn in der
Höhle, als ich saubergemacht habe.«
Millo ließ den Schädel fallen, und er schlug klappernd
auf die anderen Knochen. Der Knochenkopf schaute trübe
herüber. »Das ist furchtbar«, flüsterte Millo.
»Vielleicht hat er sie getötet. Der Knochenkopf. Vielleicht
frisst er kleine Kinder.«
»Nein, du Dummerchen«, sagte Jahna. Als sie aber die
Angst im Gesicht ihres Bruders sah, legte sie den Arm um ihn.
»Er hat es wahrscheinlich erst in den Boden gelegt, als es schon
tot war.«
Daraufhin bibberte Millo nur noch mehr. Aber sie hatte ihm doch
keine Angst machen wollen. Sie schob den Schädel weg, sodass er
ihn nicht mehr sah und erzählte ihm eine Geschichte, um ihn zu
beruhigen.
»Hör mir mal zu. Vor langer, langer Zeit waren die Leute
wie die Toten. Die Welt war dunkel, und sie hatten trübe Augen.
Sie lebten in einem Lager, wie sie es heute noch tun, und sie taten
die Dinge, die sie heute noch tun. Doch alles war dunkel und
unwirklich, wie Schatten. Eines Tages kam ein junger Mann ins Lager.
Er war zwar wie die Toten, aber er war neugierig – er war
anders. Er ging gern Fischen und Jagen. Und er fuhr immer weiter aufs
Meer hinaus als alle anderen. Die Leute fragten sich,
wieso…«
Während sie die Geschichte mit sanfter Stimme erzählte,
entspannte Millo sich, lehnte sich an sie und schlief just in dem
Moment ein, als die Sonne im Meer versank. Sogar der große
Knochenkopf döste, wie sie sah; er war an der Wand
zusammengesunken und rülpste leise. Vielleicht hörte er ihr
auch zu.
Ihre Geschichte war ein Schöpfungsmythos, eine Legende, die
schon über zwanzigtausend Jahre alt war. Solche Legenden, wonach
Jahnas Gruppe die Krone der Schöpfung sei, das ihre Lebensart
die einzig wahre sei und dass alle anderen Untermenschen seien,
lehrten die Leute, sich mit Leidenschaft um sich selbst, ihre
Verwandten und ein paar hochgehaltene Ideale zu kümmern.
Und keine Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen, und schon
gar nicht auf solche Nicht-Leute wie die Art des Alten Manns.
»… Eines Tages sahen sie, dass der junge Mann mit einem
Seelöwen zusammen war. Er schwamm mit ihm im Meer. Und er
vereinigte sich mit ihm. Empört zogen die Leute den jungen Mann
aus dem Wasser und fingen den Seelöwen ein. Und als sie ihn
schlachteten, fanden sie einen Fisch in seinem Bauch. Es war ein
fetter Fisch.« Sie meinte eine Olache. »Der Fisch war vom
jungen Mann gezeugt worden. Er war weder Mensch noch Fisch, sondern
etwas anderes. Also warfen die Leute ihn aufs Feuer. Sein Kopf ging
in Flammen auf und erstrahlte in einem Licht, das sie blendete. So
stieg der Fisch-Junge in den Himmel auf. Der Himmel war
natürlich dunkel. Dort suchte der Fisch-Junge nach dem Ort, wo
das Licht sich versteckte. Er hoffte, das Licht zu überlisten,
damit es auf die dunkle Welt herunterkam. Und dann…«
Und dann kam ihr Vater herein.
Der Alte Mann war ein Neandertaler.
Seine Art hatte in Europa, über die extremen Umschwünge
der Eiszeiten hinweg, für eine Viertelmillion Jahre
überlebt. Auf ihre Weise waren die robusten Leute überaus
erfolgreich gewesen. Sie hatten sich hier am Rand der Welt unter sehr
ungünstigen Umweltbedingungen einen Lebensraum geschaffen, wo
das Klima nicht nur rau, sondern auch trügerisch war und
jäh umzuschlagen vermochte und wo die Ressourcen von Fauna und
Flora knapp waren und ständigen Schwankungen unterlagen.
Für eine lange Zeit hatten sie sich sogar gegen die Kinder
der Mutter zu behaupten vermocht. In den Warmphasen drängten die
neuen Menschen von Süden nach Europa herein. Mit den
kräftigen Körpern, den großen, als
›Wärmetauscher‹ dienenden Nebenhöhlen und dem
robusten Verdauungsapparat vermochten die Robusten der Kälte
besser zu widerstehen als die Neuankömmlinge. Und mit ihrer
bärenartigen Statur waren sie formidable Nahkämpfer und
harte Gegner für die Menschen, bessere Technologie hin oder her.
Und wenn dann die nächste Abkühlung einsetzte, zogen die
Einwanderer sich wieder in den Süden zurück, und die
robusten Leute nahmen ihr altes Land wieder in Besitz.
Dies war immer wieder geschehen. Im südlichen Europa und im
Nahen Osten gab es Höhlen und andere Stätten, wo Schichten
menschlichen Abfalls von Neandertaler-Müll überlagert
wurden, auf die dann wieder eine menschliche Deponie folgte.
Und während der letzten Warmzeit waren die
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