Evolution
Neandertaler. Im östlichen
Asien gab es noch immer Gruppen der dünnen, kleinköpfigen
Läufer, den Homo erectus. Die alte Komplexität der
Hominiden mit den vielen Varianten, Unterarten und sogar Mischformen
der verschiedenen Arten hatte noch Bestand.
Mit der Revolution, die in Mutters Generation ausbrach und mit der
darauf folgenden Expansion veränderte sich das alles. Es war
kein Genozid und in keiner Weise geplant. Es war eine Sache der
Ökologie. Die verschiedenen Formen von Menschen konkurrierten um
dieselben Ressourcen. Über die ganze Welt lief eine Welle der
Auslöschung hinweg – ein menschliches Artensterben –,
eine Welle letzter Kontakte und Abschiede ohne Bedauern, als eine
menschliche Spezies nach der andern im Orkus der Geschichte
verschwand. Für eine Weile überlebten die Läufer noch
in der Isolation der indonesischen Inselwelt und führten fast
unverändert ein Leben, wie Weit es vor so langer Zeit getan
hatte. Doch als der Meeresspiegel dann erneut sank, wurden die
Brücken zum Festland wiederhergestellt, und die modernen
Menschen kamen herüber – und für die Läufer war
nach einer langen und statischen, ungefähr zwei Millionen Jahre
umspannenden Geschichte das Spiel aus.
Diese Entwicklung war unvermeidlich. Und bald würde es gar
keine Leute mehr auf der Welt geben – außer einer einzigen
Art.
Nach dem Verlust seiner Familie war der Alte Mann von den
Dürren nach Westen geflohen. Und hier, in dieser Höhle
hatte der Alte Mann die Westküste Europas erreicht, die Gestade
des Atlantiks. Der Ozean war eine unüberwindliche Barriere. Er
konnte nicht weiter.
Jahnas Zusammentreffen mit dem Alten Mann war der allerletzte
Kontakt.
Rood, dessen Silhouette sich gegen den Sonnenuntergang
abzeichnete, war staubig und überhitzt. An seiner Seite war
Olith, Jahnas Tante. Rood ließ den Blick durch die Höhle
schweifen und machte große Augen.
Für Jahna war es, als ob sie schlagartig aus einem Albtraum
erwachte. Sie ließ das Stück Tierhaut fallen, an dem sie
gearbeitet hatte, rannte über einen Boden, der sie
plötzlich verdreckt und ungepflegt anmutete und warf sich ihrem
Vater in die Arme. Dann weinte sie wie ein Baby, während ihr
Vater ihr linkisch den primitiven Knochenkopf-Umhang tätschelte,
in dem sie steckte.
Der Knochenkopf regte sich. Die Schatten der beiden Erwachsenen,
die von der sinkenden Sonne geworfen wurden, fielen als Streifen auf
ihn. Er beschirmte die Augen mit der Hand. Dann knurrte er und
versuchte verschlafen und mit vollem Bauch auf die Füße zu
kommen.
Rood schob die Kinder zu Olith, die sie festhielt. Dann hob er
einen Stein über den Schädel des schlaftrunkenen
Knochenkopfs.
»Nein!«, rief Jahna. Sie riss sich von Olith los und
fiel ihrem Vater in den Arm.
Rood schaute zu ihr herab. Und sie wusste, dass sie eine Wahl
treffen musste.
Jahna dachte für einen Moment nach. Sie erinnerte sich an die
Muscheln, die Robben und die Feuer, die sie gebaut hatte. Und sie
schaute auf den hässlichen, unförmigen Brauenwulst des
Knochenkopfs. Sie ließ den Arm ihres Vaters los.
Roods Arm sauste hinab. Es war ein fürchterlicher Schlag. Der
Knochenkopf fiel nach vorn. Aber Knochenkopf-Schädel waren dick.
Jahna hatte den Eindruck, dass der Alte Mann selbst jetzt noch in der
Lage gewesen wäre, wieder aufzustehen und zu kämpfen. Aber
das tat er nicht. Er verharrte auf Händen und Knien im Schmutz
seiner Höhle.
Rood musste vier-, fünfmal zuschlagen, bis er ihm den
Schädel zertrümmert hatte. Lang vor dem letzten Schlag
hatte Jahna sich schon abgewandt.
Sie verbrachten die Nacht in der Höhle. Der ermordete
Knochenkopf lag auf dem Boden. Unter dem zerschmetterten Schädel
hatte sich eine Blutlache gebildet. Am Morgen packten sie das
restliche Robbenfleisch ein und rüsteten sich für die
Heimreise. Doch bevor sie gingen, bestand Jahna darauf, dass sie ein
großes, flaches Loch im Boden aushoben. Dort legte sie die
Knochen des Kinds hinein, die sie gefunden hatte und die Leiche des
Knochenkopfs. Dann schaufelte sie das Loch mit den Händen zu und
stampfte die Erde fest.
Als sie weg waren, kamen die Möwen. Sie pickten an
Robbenfleischfetzen und der Lache aus getrocknetem Blut im Eingang
der Höhle, von der aus man einen Blick aufs Meer hatte.
KAPITEL 14
DIE AUSSCHWÄRMENDEN MENSCHEN
Anatolien, Türkei,
vor ca. 9600 Jahren
I
Sions silberhelles Lachen hallte über den leeren Platz. Ein
Hund, der im Schatten der Männer-Hütte schlummerte,
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