Evolution
verlorenen
Bruder und es ging so…«
Wie Jo’ons Traumzeit-Legenden waren diese Geschichten und
Lieder eine Art ›phantastischer Realismus‹ mit einer
spezifischen Handlung und einem wahren Kern. Es handelte sich um eine
mündliche Überlieferung. Ohne eine Schrift zum Aufzeichnen
realer Ereignisse musste man sich eben auf das Gedächtnis
verlassen. Wenn Träume und die Tänze der Schamanen ein
Mittel waren, um zahlreiche Informationen zur Unterstützung
intuitiver Entscheidungsfindung zu integrieren, waren die Lieder und
Geschichten eine Hilfe, um diese Informationen überhaupt erst zu
speichern.
Erstaunlicherweise entwickelte die Geschichte, die Dela
erzählte, eine Eigendynamik. Während die Geschichte von
einem Zuhörer zum andern weitergegeben wurde, wurden die
Elemente durch Verständnisfehler und Ausschmückungen
ständig verändert. Die meisten Änderungen waren indes
nur Details, vergleichbar mit dem so genannten DNA-Junk, scheinbar
unnützen genetischen Codierungssequenzen. Der Gehalt der
Geschichte – der Tenor, die Eckpunkte und die Pointe –
blieb in der Regel stabil. Aber nicht immer: Manchmal wurde eine
wesentliche Adaption vorgenommen, ob sie nun vom Sprecher
beabsichtigt war oder nicht, und wenn das neue Element die Geschichte
verbesserte, wurde es eben beibehalten. Die Geschichten, wie auch
andere Aspekte der Kultur der Leute, nahmen eine eigene Entwicklung,
die in den Arenen des weitläufigen Bewusstseins der neuen Leute
sich vollzog.
Jedoch war Delas Geschichte weder ein reines Märchen noch
eine Gedächtnisstütze. Mit ihrer Geschichte – indem
sie die Entstehungsgeschichte ihres Lands darstellte und indem ihr
Publikum sie durch Zuhören zur Kenntnis nahm –
begründete sie eine Art Titel. Nur wenn man das Land gut genug
kannte, um seine wahre Geschichte zu erzählen, vermochte man
seine Rechte am Land geltend zu machen. Es gab hier keine
schriftlichen Verträge, keine Urkunden und keine Gerichte; Delas
Anspruch auf das Land wurde einzig und allein durch das
Verhältnis von Erzähler und Zuhörer begründet und
auf Zusammenkünften wie diesen bestätigt.
Plötzlich ertönten ein lautes Zischen und ein freudiges
Gebrüll vorm Zelt. Die ersten Brocken des Megaloceros waren aufs
Feuer geworfen worden. Bald war die Luft vom Mund wässrig
machenden Aroma des Fleischs erfüllt. Das nächtliche Fest
begann.
Die Leute aßen, tanzten und vergnügten sich. Und beim
Ausklang des Fests kam zu Roods Überraschung Dela auf ihn
zu.
»Hör mir zu, Rood. Ich bin deine Freundin. Wir haben
auch schon einmal beieinander gelegen.«
»Eigentlich zweimal«, sagte er mit einem verschmitzten
Lächeln.
»Also zweimal. Was ich dir nun sage, sage ich aus
Freundschaft und nicht, um dir Leid zuzufügen.«
Er runzelte die Stirn. »Was willst du mir denn
sagen?«
Sie seufzte. »Es gibt da so eine Geschichte. Ich habe sie vor
nicht einmal zwei Tagen hier gehört; eine Gruppe aus dem
Süden hat sie erzählt. Sie sagen, dass in einem wertlosen
Landstrich an der Küste ein Knochenkopf in einer Höhle bei
den Klippen haust. Du verstehst? Und in dieser Höhle – so
sagt man, so will ein Jäger gesehen haben – leben zwei
Kinder.«
Er verstand nicht. »Knochenkopf-Junge?«
»Nein. Keine Knochenköpfe. Leute. Der Jäger
war mit der Beute beschäftigt und hat es nur aus der Ferne
beobachtet. Eins der Kinder, sagte der Jäger, sei ein
Mädchen, etwa so groß.« Sie stellte es mit der Hand
dar. »Und das andere…«
»Ein Junge«, sagte Rood atemlos. »Ein kleiner
Junge.«
»Ich bitte dich um Entschuldigung, dass ich dir das
erzählt habe«, sagte Dela.
Rood verstand. Dela glaubte, dass er über den Verlust
hinweggekommen sei und dass sie nun wieder einen Funken Hoffnung im
kalten Herzen entzündet hätte. »Morgen«, sagte er
mit schwerer Stimme. »Morgen wirst du mich zu diesem Jäger
bringen. Und dann…«
»Ja. Aber nicht jetzt.«
Später, mitten in der Nacht, legte Olith sich zu Rood, aber
er war rastlos.
»Der Morgen ist bald da«, flüsterte sie. »Und
dann wirst du aufbrechen.«
»Ja«, sagte er. »Olith, komm mit mir.«
Sie nickte nach kurzer Überlegung. Es wäre nicht ratsam
für ihn gewesen, allein zu reisen. Sie hörte, dass er mit
den Zähnen knirschte, berührte seinen Mund und spürte
die verspannten Muskeln. »Was ist denn?«
»Wenn da wirklich ein Knochenkopf-Mann ist – wenn er
ihnen etwas angetan hat…«
»Du machst dir unnötige Gedanken«, sagte sie sanft.
»Du musst dich ausruhen.
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