Evolution
war die Nahrung, die man dem Boden so mühsam
entrang, gar nicht mal so nahrhaft. Während die alten Jäger
und Sammler eine ausgewogene Nahrung mit genügend
Mineralstoffen, Protein und Vitaminen zu sich genommen hatten, lebten
die Bauern hauptsächlich von stärkehaltigen Pflanzen: Es
war, als ob sie teure, qualitativ hochwertige Nahrung gegen eine Kost
eingetauscht hätten, die zwar reichlich, aber minderwertig war.
Infolgedessen und wegen der harten Arbeit waren sie nicht mehr so
gesund wie ihre Vorfahren. Sie hatten schlechte Zähne und wurden
von Blutarmut geplagt. Die Ellbogen der Frauen waren durch das
ständige Mahlen verschlissen. Die Männer litten unter
starkem sozialem Stress, der sich in häufigen Schlägereien
und Morden entlud.
Im Vergleich zu ihren großen und gesunden Vorfahren bauten
die Leute wirklich ab.
Und dann waren da noch die Todesfälle.
Es stimmte, dass die Mütter ihre Babys nicht opfern mussten.
Vielmehr wurden die Frauen ermutigt, möglichst schnell
möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen, denn Kinder
erfüllten den endlosen Bedarf an Arbeitskräften für
die Felder: Mit dreißig Jahren waren viele Frauen wegen der
endlosen Belastung durch Schwangerschaften und der Aufzucht von
Kindern schon ausgezehrt.
Aber so viele geboren wurden, so viele starben auch. Es dauerte
nicht lang, bis Juna das erkannt hatte. Krankheit war bei Junas
Leuten die Ausnahme gewesen – doch hier, an diesem
überfüllten, schmutzigen Ort war sie der Normalfall. Man
vermochte fast zu sehen, wie sie sich ausbreitete: Die Leute
schnieften und husteten, kratzten sich an nässenden Wunden und
verseuchten mit ihrem Durchfall das Wasser der Nachbarn. Am
stärksten betroffen waren die Schwachen, die Alten und Kranken.
Viele Kinder starben, viel mehr als bei Junas Leuten.
Und es gab kaum eine Handvoll Leute, die so alt waren wie ihre
Großmutter. Juna fragte sich, was mit der ganzen Weisheit
geschah, die verloren ging, wenn die Alten in so großer Zahl
und so früh starben.
Die Tage gingen ins Land, einer so monoton wie der andere. Die
Arbeit war Routine. Freilich war alles hier Routine, tagein, tagaus
der gleiche Trott.
Cahl bestieg sie fast jede Nacht. Aber er schien sich schwer zu
tun. Manchmal stürzte er sich auf sie, warf sie auf den Boden
und riss ihr das Kleid vom Leib, oder er drehte sie auf den Bauch und
nahm sie von hinten. Es war, als ob er sich an ihr abreagierte, nur
um sich selbst zu befriedigen. Doch wenn er zu viel Bier getrunken
hatte, regte sich bei ihm gar nichts mehr.
Er war im Grunde genommen ein schwacher Mann, wurde sie sich
bewusst. Er hatte zwar Macht über sie, aber sie fürchtete
ihn nicht. Zuletzt war es für sie zur Routine geworden, dass er
sie nahm; es war nur noch ein Teil ihres Lebenshintergrunds. Trotzdem
war sie froh, dass sie nicht von ihm schwanger werden konnte –
nicht solang Toris Kind in ihr heranwuchs.
Als sie eines Tages mühsam den steinernen Pflug durch
trockenen, steinigen Boden zog, kamen laut blökende Schafe
über eine Anhöhe gerannt. Die Feldarbeiter, denen eine
Pause immer gelegen kam, richteten sich auf und schauten hin. Sie
lachten, als die Schafe auf der Suche nach Gras über den
unebenen Boden stolperten und sich gegenseitig anrempelten.
Plötzlich ertönte wildes Gebell. Ein Hund hetzte
über die Anhöhe, gefolgt von einem Jungen mit einem
Hirtenstab. Unter dem Gelächter, Beifall und den Pfiffen der
Arbeiter jagten der Junge und der Hund den Schafen hinterher.
Gwerei kam zu Juna und sah ihr verwirrtes Gesicht. Dann deutete
sie gar nicht mal unfreundlich auf die Schafe: »Owis
Kludhi.« Sie zählte die einzelnen Schafe mit den
Fingern ab. »Oynos. Dwo. Treyes. Owis.« Dann stupste
sie Juna an und versuchte ihr eine Reaktion zu entlocken.
Juna mit dem schmerzenden Rücken und dem verfilzten Haar
verstand die Welt nicht mehr. »Was ist los?«
Doch diesmal verlor Gwerei erstaunlicherweise nicht die Geduld. »Owis. Kludhi. Owis.«
Und dann sprach sie in ihrer Zunge zu Juna, aber viel langsamer
und deutlicher als sonst – und sie streute zu Junas
Überraschung sogar ein paar Worte aus deren Sprache ein, die sie
vermutlich von Cahl aufgeschnappt hatte. Sie versuchte, Juna etwas
mitzuteilen – etwas sehr Wichtiges.
Juna fügte sich und hörte ihr zu. Es dauerte eine lange
Zeit. Allmählich reimte sie sich jedoch zusammen, was Gwerei ihr
zu vermitteln versuchte. »Lerne die Sprache. Lerne durch
Zuhören. Weil das nämlich der einzige Weg ist,
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