Evolution
darauf folgenden Tag.
Das war Ackerbau: primitiv, aber eindeutig Ackerbau. Diese neue
Lebensweise war allerdings nicht geplant worden. Sie hatte sich
Schritt für Schritt ergeben.
Schon zu Kieselsteins Zeiten, noch vorm Erscheinen des modernen
Menschen, hatten Leute die von ihnen bevorzugten wilden Pflanzen
gesammelt und andere beseitigt, die den Nutzpflanzen Konkurrenz
machten. Die Domestizierung von Tieren hatte ähnlich
zufällig stattgefunden. Hunde hatten gelernt, mit Menschen zu
jagen und waren dafür belohnt worden. Ziegen hatten gelernt,
Menschen wegen der Abfälle zu folgen, die diese
hinterließen, und die Menschen hatten wiederum gelernt, nicht
nur das Fleisch, sondern auch die Milch der Ziegen zu nutzen.
Für Jahrhunderttausende hatten die Menschen unbewusst die
Pflanzen- und Tierarten ausgewählt, die für sie am
nützlichsten waren. Und nun war dieser Prozess bewusst
geworden.
Es hatte in einem Tal nicht weit von hier angefangen. Für
Jahrhunderte hatten die Menschen dort sich eines stetig
erwärmenden Klimas und eines reichhaltigen Nahrungsangebots aus
Nüssen, wildem Getreide und Wildbret erfreut. Doch dann hatten
plötzlich Trockenheit und Abkühlung eingesetzt. Die
Wälder waren geschrumpft. Die natürlichen Nahrungsquellen
drohten zu versiegen.
Also hatten die Leute ihre Anstrengungen auf die von ihnen
bevorzugten Getreidesorten gerichtet, die Sorten mit großen
Körnern, die man leicht von den Spelzen zu trennen vermochte und
mit nicht streuenden Ähren, die die Körner zusammenhielten.
Diese Pflanzen hegten sie und jäteten die unerwünschten
Pflanzen in ihrer Umgebung aus.
Erbsen waren ebenfalls eine frühe
›Erfolgsgeschichte‹. Die Schoten von Wilderbsen platzten
und verteilten die Erbsen auf dem Erdboden, wo sie keimten. Leute
bevorzugten indes Mutationen, deren Schoten nicht platzten und die
somit leichter zu sammeln waren. In der Wildnis keimten solche Erbsen
nicht, gediehen aber in menschlicher Pflege. Gleichermaßen
wurden nicht platzende Varianten von Linsen, Flachs und Mohn
bevorzugt.
Indem sie die Samen der von ihnen bevorzugten Pflanzen
verbreiteten und die der unerwünschten ausrotteten, hatten die
Leute eine Selektion in Gang gesetzt. Und die Pflanzen passten sich
sehr schnell an. Nach nur einem Jahrhundert hatten sich bereits
großkörnige Getreidesorten wie Roggen entwickelt. Manche
Pflanzen wurden wegen der Größe ihrer Samen bevorzugt, wie
zum Beispiel Sonnenblumen und andere gerade wegen der Kleinheit der
Samen – wie zum Beispiel Bananen. Hier wurden die Früchte
der Pflanzen genutzt und nicht die Samen. Manche Gene, die
früher sogar tödlich gewesen wären, wurden nun
bevorzugt, wie die für die nicht platzenden Erbsenschoten.
Die ersten Roggenpflanzer waren aber nicht sofort sesshaft
geworden. Für eine Weile hatten sie sich noch als Jäger und
Sammler betätigt, während sie Ackerbau trieben. Die neuen
Felder hatten als ›Speisekammer‹ gedient, als Vorsorge
gegen das Hungern in schlechten Zeiten: Wie bei allen Neuerungen
hatte die Landwirtschaft sich aus den Praktiken entwickelt, die ihr
vorausgegangen waren.
Aber die Kultivierung des Landes hatte sich als so effektiv
erwiesen, dass man sich ihr bald ausschließlich widmete. Die
meisten wilden Pflanzen waren ungenießbar – doch neun
Zehntel der Ernte, die ein Landmann einbrachte, waren essbar. Aus
diesem Grund vermochten diese Leute sich auch so viele Kinder zu
leisten: Davon lebte dieser große Ameisenhügel von
Stadt.
Das war die revolutionärste Umwälzung in der Lebensart
der Hominiden, seit Homo erectus den Wald verlassen und sich
in die Savanne hinausgewagt hatte. Im Vergleich zu dieser
Phasenverschiebung waren die Fortschritte in der Zukunft, sogar die
Gentechnik, bloße Randnotizen. Es würde nie mehr eine so
signifikante Veränderung eintreten, nicht bis die Menschen vom
Antlitz der Erde verschwunden sein würden.
Indes wurde die Erde durch die Revolution des Ackerbaus nicht zum
Paradies.
Ackerbau bedeutete Arbeit: eine endlose, knochenharte Plackerei
– und das jeden Tag. Nachdem die Menschen den Erdboden von allem
befreit hatten außer von dem, was sie anbauen wollten, mussten
sie nun die Arbeit verrichten, die zuvor die Natur für sie
übernommen hatte: den Boden lüften, Krankheiten
bekämpfen, düngen, Unkraut jäten. Ackerbau bedeutete,
das ganze Leben, alle Fertigkeiten, die Freude am Laufen, die
Freiheit, zu tun und lassen, was man wollte, der Fron auf den Feldern
zu opfern.
Und dabei
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