Evolution
Juna, der dreckigen
Stadt entronnen zu sein und sich wieder in der freien Natur zu
befinden. Es war eine große Erleichterung, zu gehen, anstatt
auf einem staubigen Feld den Rücken krumm zu machen – auch
wenn die Landschaft auf dem Marsch nach Osten eine immer geringere
Ähnlichkeit mit dem Ort hatte, an dem sie und ihre Vorfahren
immer gelebt hatten.
Sie übernachteten jedes Mal in kleinen Städten, die
genau so aussahen wie Cahls Stadt. Die Soldaten vergnügten sich
mit Bier und Mädchen. Keram und Muti hielten sich zurück
und verbrachten die Nächte jedes Mal in einer Hütte, wobei
sie Juna einen Schlafplatz in einer Ecke zuwiesen.
Keiner von beiden rührte sie an. Vielleicht lag es an der
Schwangerschaft. Vielleicht trauten sie sich auch nur nicht. Sie war
froh, von Cahls brutaler ›Zuwendung‹ erlöst zu sein
und legte im Moment keinen Wert auf körperliche Nähe.
Andererseits bedauerte sie es unter dem praktischen Gesichtspunkt
auch. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie dieser Ort, dieses Cata
Huuk aussah. Aber sie sagte sich, dass ihre Überlebenschancen am
besten wären, wenn sie sich an Keram oder Muti hielt.
Also sorgte sie dafür, dass sie ihnen jeden Morgen und Abend,
wenn sie das Kleid auszog, ihren Körper zeigte. Und sie wusste
auch, dass Kerams Blick auf sie fiel, auch wenn er glaubte, dass sie
es nicht bemerkte.
Je weiter sie kamen, desto dichter war die Landschaft mit Feldern
und Dörfern durchsetzt. Es wuchsen hier keine Bäume, aber
es gab Baumstümpfe und Flächen brandgerodeten Waldes.
Offenes Land gab es hier überhaupt keins, außer wertlosen
Steinwüsten und Marschen. Es gab nur Felder und Landstücke,
die offensichtlich einmal bestellt worden waren, aber nun ausgelaugt
waren und brach lagen. Bald vermochte sie kaum noch einen Schritt zu
tun, ohne in die Fußstapfen eines ›Vorgängers‹
zu treten. Das Ausmaß, in dem diese schwärmenden Leute die
Welt verändert hatten, erschreckte sie.
Und schließlich erreichten sie Cata Huuk selbst.
Das Erste, was Juna sah, war eine Mauer. Sie bestand aus
Lehmziegeln und Stroh und war ein großer kreisförmiger
Wall, der so hoch war wie drei Leute, die auf den Schultern des
jeweils anderen standen. Und sie war mit angespitzten Pfählen
gespickt. Der Wall war von einem Ring aus schäbigen Hütten
und Verschlägen aus Lehm und Ästen umgeben. Die Mauer war
so lang, dass sie das Land zu teilen schien.
Ein breiter, ausgetretener Pfad führte zum Wall hinauf.
Diesem Pfad folgte Kerams Gruppe nun. Bei ihrer Annäherung
quollen Leute wie aufgescheuchte Ameisen aus den Hütten. Sie
stießen Schreie aus, zupften an Kerams Kleidung und boten ihnen
Fleisch, Früchte und Süßigkeiten dar sowie Figuren
aus Holz und Stein. Juna zuckte zurück. Doch Keram versicherte
ihr, dass sie keine Angst haben müsse. Diese Leute wollten nur
etwas verkaufen; dies sei nämlich ein Markt.
Ein großes Holztor war in die Mauer eingelassen. Keram
stieß einen lauten Ruf aus. Ein Mann auf der Mauerkrone winkte,
und das Tor wurde geöffnet. Die Gruppe marschierte hindurch.
Juna tauchte in eine fremde Welt ein. Sie zitterte.
Die Hütten – die stachen ihr sofort ins Auge. Es waren
viele, viele Dutzend, die über die weite Fläche innerhalb
der Mauern verstreut waren. Die meisten waren nicht besser als Cahls
Behausung, unförmige Bauten aus Lehm und Holz. In Richtung
Stadtmitte gab es aber ein paar, die geradezu repräsentativ
wirkten: windschiefe Bauten mit zwei oder drei Stockwerken, deren
Fassaden mit geflochtenen gelben Gräsern verziert waren, die in
der Sonne leuchteten. Die Ansammlungen der Hütten wurden von
Straßen durchschnitten, die wie ein Spinnennetz anmuteten. Eine
graue Rauchwolke hing über der Stadt. Abwässer liefen durch
Kanäle in der Straßenmitte, und Fliegen summten in Wolken
über dem träge rinnenden Unrat.
Und überall schwärmten Leute: Die Männer traten in
Gruppen auf, die Kinder lärmten und rannten umher, und die
Frauen trugen schwere Lasten auf Kopf und Rücken. Es gab auch
Tiere; sie waren genauso zahlreich waren wie die Menschen. Der
Lärm war enorm, eine richtige Kakophonie. Die Gerüche
– nach Kot, Urin, Tieren, Rauch und dem fettigen Gestank
gebratenen Fleischs – waren überwältigend.
Dies war Cata Huuk. Mit zehntausend Menschen, die in den Mauern
sich drängten, war es eine der ersten Städte der Erde.
Nicht einmal Keer hatte sie darauf vorzubereiten vermocht.
Keram lächelte sie an. »Geht es dir gut?«
»Was für ein
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