Evolution
entführt worden sein soll…
wann, vor fünfzehn, sechzehn Jahren?«
»Mir auch nicht«, sagte Keram.
»Man sagt, die Wilden jenseits der Felder hätten diese
Gestalt. Sie seien groß und wirkten sehr gesund, trotz ihrer
abscheulichen Lebensweise.«
»Falls sie eine Wilde ist, ist sie aber eine schlaue
Wilde«, sagte Keram bedächtig. »Ich sagte mir, ihre
Geschichte würde Euch erheitern.«
»Es ist die Wahrheit!«, sagte Juna.
Der Potus stieß ein bellendes Lachen aus. »Sie spricht
sogar.«
»Sie spricht gut. Sie ist klug, Herr, und…«
»Tanz für mich, Mädchen.« Als Juna ihn nur
wortlos und finster anschaute, sagte der Potus mit metallischer
Härte: »Tanz für mich, oder ich werde dich sofort von
hier wegbringen lassen.«
Juna begriff kaum, was hier überhaupt vor sich ging. Sie
wusste jedoch, dass ihr Leben davon abhing, wie sie sich nun
verhielt.
Also tanzte sie. Sie erinnerte sich an die Tänze, die sie und
ihre Schwester Sion als Kinder aufgeführt hatten und an
Tänze, die vom Schamanen initiiert worden waren und an denen sie
als junge Erwachsene teilgenommen hatte.
Nach einer Weile grinste der Potus. Und dann klatschten er, Keram
und Muti im Rhythmus ihrer nackten Füße, die auf den
polierten Holzboden patschten.
Nackt und in einer anderen Welt gestrandet tanzte sie bis zur
Erschöpfung.
Von Anfang an war es Juna ganz klar, dass, wenn sie gesund
bleiben, gut ernährt werden und von der Geißel endloser,
monotoner Knochenarbeit verschont werden wollte, sie sich nach
Möglichkeit der Gunst von Potus erfreuen musste.
Also machte sie sich so interessant wie irgend möglich. Sie
kramte in ihren Erinnerungen nach Fähigkeiten und Fertigkeiten,
die bei ihren Leuten der Brauch gewesen waren, mit denen sie bei
diesen Bienenstock-Bewohnern aber Eindruck zu schinden vermochte. Sie
organisierte Langstreckenläufe, die sie – obwohl sie
hochschwanger war – mit verblüffender Leichtigkeit gewann.
Sie fertigte Speerschleudern an und stellte ihr Geschick mit dem Wurf
auf Ziele unter Beweis, die so klein und entfernt waren, dass die
meisten Höflinge des Potus sie nicht einmal zu sehen vermochten.
Dann fertigte sie aus Steinen, Holz und Muscheln ohne Werkzeug
Klingen, Skulpturen und Reliefs. Damit verzauberte und erstaunte sie
diese Leute, die sich schon so weit von den natürlichen
Lebensgrundlagen entfernt hatten.
Und dann wurde ihr Kind geboren. Es war ein gesunder Junge, der
irgendwann vielleicht Tori, seinem Vater ähneln würde.
Schon im frühen Kindesalter unterwies sie ihn im Laufen, Tanzen
und Speerwerfen.
Und als sie schließlich Keram in ihr Bett lockte, als er ihr
die Lügen verzieh, mit denen sie ihn veranlasst hatte, sie
hierher zu bringen und als sie ihm nach einem Jahr ein Kind gebar,
hatte sie das Gefühl, dass ihr Platz in der Mitte dieses
Menschen-Nests sicher sei.
Und was die Stadt betraf, so brauchte Juna nicht lang, um hinter
die Kulissen dieses überfüllten Bienenstocks zu
schauen.
Dies war eine Klassengesellschaft mit einer starren Hierarchie und
absolutistischen Merkmalen. Die Masse der hier lebenden Menschen
musste Frondienste leisten, um den Potus, seine Frauen, Söhne,
Töchter, Verwandte und seinen ganzen Hofstaat zu ernähren
– und dazu die Priesterkaste, das geheimnisvolle Netzwerk
schamanenartiger Mystiker, die ein noch feudaleres Leben zu
führen schienen als der Potus selbst.
Das hatte aber so kommen müssen. Mit der Kultivierung der
Pflanzen war das Land viel produktiver geworden. Die natürlichen
Regulative, die das Wachstum der Populationen begrenzt hatten, waren
mit einem Mal außer Kraft gesetzt worden. Die Zahl der Menschen
explodierte förmlich.
Plötzlich vermehrten die Menschen sich nicht mehr wie
Primaten. Sie vermehrten sich wie Bakterien.
Die verdichteten Populationen bildeten eine neue Art von
Gemeinschaften: Es entstanden Bevölkerungszentren wie
Dörfer und Städte, die durch einen steten Fluss von
Lebensmitteln und Rohstoffen vom Land versorgt wurden.
Nie zuvor waren die Menschen in solchen Größenordnungen
aufgetreten und hatten ein derart komplexes Beziehungs-Geflecht
ausgebildet. Und in den Städten etablierte sich
zwangsläufig eine neue Form der sozialen Organisation. In
Gemeinschaften wie der, welcher Juna entstammte, war die
Entscheidungsfindung gemeinschaftlich und die Führung informell
gewesen, weil jeder jeden kannte. Verwandtschaftliche Beziehungen
hatten in den meisten Fällen genügt, um Konflikte
beizulegen. In größeren
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