Evolution
–, denn
sie sind offenbar schon sehr alt, und es wurde Schindluder mit ihnen
getrieben…«
Nun fand Honorius einen schweren Brocken aus rotem Sandstein, in
den seltsame weiße Gegenstände eingebettet waren. Er hatte
die Größe eines Sargdeckels und war viel zu schwer
für ihn, sodass die Träger ihm helfen mussten, ihn
anzuheben. »Nun, mein Herr Skythe. Zweifellos werdet Ihr diesen
stattlichen Burschen erkennen.«
Der Skythe lächelte. Athalarich und die anderen kamen herbei,
um einen Blick darauf zu werfen.
Die in den roten Stein eingebetteten weißen Gegenstände
waren Knochen: das Skelett einer im Stein eingeschlossenen Kreatur.
Die Kreatur musste so lang gewesen sein wie Athalarich hoch. Sie
hatte kräftige Hinterbeine, deutlich sichtbare, mit dem
Rückgrat verbundene Rippen und kurze, vor der Brust
verschränkte Vorderarme. Und sie hatte einen langen Schwanz wie
ein Krokodil, sagte Athalarich sich. Das erstaunlichste Merkmal war
aber der Kopf. Der massive Schädel hatte einen großen
hohlen Knochengrat und einen kräftigen Kiefer, der unter etwas
aufgehängt war, das wie ein Vogelschnabel anmutete. Zwei
Augenhöhlen starrten sie aus der Zeit an.
Honorius beobachtete ihn mit rheumatisch wässrigen Augen.
»Na, Athalarich?«
»Ich habe so ein Ding nie zuvor gesehen«, stieß
dieser hervor. »Aber…«
»Aber du weißt, was das ist.«
Es musste ein Greif gewesen sein: die sagenhaften Ungeheuer der
östlichen Wüsten mit vier Füßen und einem
großen Vogelkopf. Die Motive der Greife hatten Malerei und
Bildhauerei seit tausend Jahren durchdrungen.
Nun setzte der Skythe zu einem so schnellen Redefluss an, dass
Papak kaum noch mit dem Dolmetschen nachkam. »Er sagt, dass sein
Vater, und sein Vater vor ihm, in den Wüsten des Ostens nach dem
Gold gesucht hätten, das von den Bergen hinuntergespült
wird. Und die Greife bewachen das Gold. Er hat ihre Knochen
überall gesehen; sie lugen aus dem Gestein wie
hier…«
»Genauso, wie Herodot es beschrieben hat«, sagte
Honorius.
»Frag ihn, ob er auch einen lebend gesehen hat«, sagte
Athalarich.
»Nein«, sagte der Skythe durch Papak, »aber er hat
ihre Eier in großer Zahl gesehen. Wie Vögel legten sie
ihre Eier in Nestern ab, allerdings auf dem Erdboden.«
»Wie ist die Bestie überhaupt in den Stein
gelangt?«, murmelte Athalarich.
»Erinnere dich an Prometheus«, sagte Honorius
lächelnd.
»Prometheus?«
»Um ihn dafür zu bestrafen, weil er den Menschen das
Feuer gebracht hatte, ketteten die alten Götter Prometheus an
einen Berg in der östlichen Wüste an, der von Greifen
bewacht wurde. Aischylos erzählt uns, wie sein Leib von
Erdrutschen und Regenfällen begraben wurde und dass er für
eine lange Zeit im Gestein eingeschlossen war, ehe er durch die
Verwitterung des Felsens wieder ans Licht kam… Dies hier ist
auch so eine prometheische Bestie, Athalarich!«
Sie setzten die Unterhaltung fort, während sie in den Knochen
wühlten. Sie waren allesamt fremdartig, riesig, verkrümmt
und unidentifizierbar. Die meisten dieser Überreste stammten von
Rhinozerossen, Giraffen, Elefanten, Löwen und Chalicotheria, den
mächtigen Säugetieren des Pleistozän. Sie waren durch
die tektonischen Umwälzungen ans Tageslicht gelangt worden, als
Afrika sich langsam nach Eurasien hineinschob. Wie in Australien und
wie auf der ganzen Welt, so war es auch hier: Die Menschen hatten
vergessen, was sie verloren hatten, und es blieben ihnen nur noch
verzerrte, streiflichtartige Erinnerungen an diese Riesen.
Und während die Männer diskutierten und sich am Fossil
zu schaffen machten, schaute der Schädel des Protoceratops
– ein Dinosaurier, der nur ein paar Jahrhunderte vor Purgas
Geburt in einem Sandsturm umgekommen war – sie mit der
blicklosen Ruhe der Ewigkeit an.
»Dies sind Berichte, die von Hesiod, Homer und vielen anderen
niedergeschrieben wurden, aber von Generationen von
Geschichtenerzählern vor ihnen überliefert wurden.
Die längste Zeit vor dem Erscheinen moderner Menschen war die
Erde leer. Doch der urzeitliche Grund gebar eine Anzahl von Titanen.
Die Titanen waren wie Menschen, nur viel größer.
Prometheus war einer von ihnen. Kronos führte seine
Titanen-Geschwister an, um ihren Vater zu meucheln. Doch aus seinem
Blut ging die nächste Generation hervor, die Riesen. In jenen
Tagen, nicht lang nach dem Ursprung des Lebens selbst, tobte ein
verwandtschaftliches Chaos, und Generationen von Riesen und
Ungeheuern breiteten sich aus…«
Sie
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