Evolution
einst noch eine Rasse von Vor-Menschen gab – Menschen mit Körpern wie
Bären und Köpfen wie Helme von Zenturios?«
Athalarich war perplex; davon hatte Honorius ihm noch nichts
erzählt.
Der Skythe hob an zu sprechen. Seine fließenden Vokale und
verschliffenen Konsonanten klangen wie ein Lied, das von Papaks
hölzerner Übersetzung kaum beeinträchtigt wurde –
ein Lied der Wüste, das in die schwüle italienische Nacht
emporstieg.
»Er sagt, einst gab es viele Arten von Menschen. Sie sind nun
alle verschwunden, diese Menschen, doch in den Wüsten und den
Bergen überdauern sie in Geschichten und Liedern. Wir haben
alles vergessen, sagt er. Einst war die Welt voller verschiedener
Menschen und verschiedenster Tiere. Wir haben es nur
vergessen.«
»Ja!«, rief Honorius und stand plötzlich mit
gerötetem Gesicht auf. »Ja, ja! Wir haben fast alles
vergessen, außer unscharfen Spuren, die in Mythen erhalten
sind. Es ist eine Tragödie, eine Agonie der Einsamkeit. Ihr und
ich, mein Herr Skythe, wissen nicht einmal mehr, wie wir miteinander
sprechen sollen. Und dennoch versteht Ihr genauso gut wie ich, dass
wir wie Flößer auf einem Floß auf einem weiten Meer
unentdeckter Vergangenheit treiben. Kommt mit mir! Ich muss Euch die
Gebeine zeigen, die ich gefunden habe – bitte, kommt doch mit
mir!«
III
Athalarich und Honorius kamen aus Burdigala, einer Stadt des seit
dreißig Jahren bestehenden gotischen Königreichs, das nun
einen Großteil der ehemaligen römischen Provinzen Gallien
und Spanien umspannte. Auf dem Rückweg mussten sie über den
Flickenteppich aus Provinzen reisen, der sich nach der Aufhebung der
römischen Herrschaft über Westeuropa gelegt hatte.
Die Beziehung zwischen Rom und den germanischen Stämmen des
Nordens war seit jeher problematisch gewesen, weil die Germanen
ständig gegen die lange, verwundbare Nordgrenze des alten
Imperiums angestürmt waren. Seit Jahrhunderten hatten Germanen
als Söldner für das Imperium gedient, und zuletzt hatten
ganze Stämme sich dort ansiedeln dürfen – unter der
Prämisse, dass sie als Bundesgenossen gegen gemeinsame Feinde
jenseits der Grenze kämpfen würden. So war das Imperium zu
einer Art Dachverband geworden, der nicht mehr nur von Römern
bewohnt und beherrscht wurde, sondern auch von den vitaleren
Germanen, Goten und Vandalen.
Als der Druck auf die Grenze immer stärker wurde – eine
indirekte Auswirkung des gewaltigen Ansturms der Hunnen aus Asien
–, war den Römern die Kontrolle schließlich ganz
entglitten. Die Gouverneure und ihr Stab hatten sich aus dem Staub
gemacht, und die letzten römischen Soldaten, die – schlecht
bezahlt, schlecht ausgerüstet und demoralisiert – noch die
Stellung hielten, hatten den Zusammenbruch der Ordnung nicht zu
verhindern vermocht.
Auf diese Art war das weströmische Reich sang- und klanglos
untergegangen. Neue Nationen entstanden aus dem politischen Chaos,
und Sklaven wurden zu Königen.
Und so marschierten Athalarich und Honorius vom Königreich
Odoakers, das Italien und die Reste der alten Provinzen von
Rätien und Noricum im Norden umfasste, durch das Königreich
der Burgunder, das sich vom Hinterland der Rhône in den Osten
Galliens erstreckte, und die fränkische Grafschaft Soissons,
bevor sie schließlich ihr Westgoten-Reich wieder
erreichten.
Athalarich hatte schon befürchtet, dass der Ausflug ins
versagende Herz des alten Imperiums ihm vielleicht in schonungsloser
Offenheit den niedrigen Entwicklungsstand seines Volks vor Augen
geführt hätte. Zuhause angekommen stellte er jedoch fest,
dass eher das Gegenteil der Fall zu sein schien. Verglichen mit der
morbiden Pracht Roms wirkte Burdigala durchaus klein, provinziell und
primitiv, ja sogar hässlich. Burdigala expandierte jedoch.
Große Bauvorhaben prägten das Hafenviertel, und im Hafen
selbst lagen viele Schiffe vor Anker.
Rom war prächtig, aber es war tot. Dies war die
Zukunft – seine Zukunft, die er mitgestalten würde.
Athalarichs Onkel Theoderich war ein entfernter Cousin von Eurich,
dem gotischen König von Gallien und Spanien. Theoderich, der
sich mit ehrgeizigen Plänen für seine Familie trug, hatte
eine Art Zweitresidenz in einer alten, noblen Villa außerhalb
von Burdigala bezogen. Als er die Kunde von den exotischen Besuchern
vernahm, die Honorius und Athalarich mitgebracht hatten, bestand er
darauf, dass sie in seiner Villa Quartier nahmen und plante sofort
eine Art Tournee, um die Fremden zu präsentieren
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