Evolution
hatte
die Probleme noch verschärft. In Roms Kaiserzeit war es
erforderlich gewesen, einen stetigen Zustrom gesunder Bauern in die
Städte zu gewährleisten, um die Sterbefälle
auszugleichen – und wirklich gelang es Stadtbevölkerungen
erst im zwanzigsten Jahrhundert, ihre Anzahl aus eigener Kraft
konstant zu halten.
Diese schier aus allen Nähten platzende Stadt war eine
Verirrung der landwirtschaftlichen Revolution, ein Ort, an dem die
Menschen wie Ameisen zusammenlebten und nicht etwa wie Primaten.
Es war fast eine Erleichterung, als sie zu einer Stelle kamen, die
bei einer der Eroberungen durch die Barbaren niedergebrannt worden
war. Obwohl die Zerstörung schon vor Jahrzehnten stattgefunden
hatte, war dieser versengte und verwüstete Bereich nie mehr
wiederaufgebaut worden. Doch wenigstens wurde Athalarich der Blick in
den Himmel hier nicht durch schmutzige Fassaden verstellt.
»Fragt ihn, woran er gerade denkt«, sagte Honorius zum
Perser.
Der Skythe drehte sich um und ließ den Blick über die
wuchtigen Mietskasernen streifen. Er murmelte etwas, und Papak
dolmetschte: »Seltsam, dass ihr Leute es vorzieht, wie
Möwen in Klippen zu leben.« Athalarich hatte die Verachtung
in der Stimme des Skythen gehört.
Als sie zur Villa zurückkehrten, stellte Athalarich fest,
dass die Börse, die er am Körper trug, säuberlich
aufgeschlitzt und geleert worden war. Er ärgerte sich, über
sich selbst wie über den Dieb – wie sollte er auf Honorius
aufpassen, wenn er nicht einmal auf seine eigene Börse zu achten
vermochte –, aber er wusste auch, dass er dankbar sein sollte,
dass der unsichtbare Räuber ihm nicht auch gleich den Bauch
aufgeschlitzt hatte.
Am nächsten Tag kündigte Honorius an, mit seinen
Gästen eine Landpartie zu einem Ort zu machen, den er das Museum
des Augustus nannte. Also stiegen sie in Wagen und rumpelten
über gepflasterte, aber überwucherte Straßen an den
Bauernhöfen vorbei, die sich um die Stadt zogen.
Sie erreichten etwas, das einmal eine exklusive, teure Kleinstadt
gewesen sein musste. Eine Lehmziegelmauer umschloss ein paar Villen
und eine Ansammlung bescheidener Gebäude, die Sklaven beherbergt
hatten. Der Ort war offensichtlich verlassen. Die Mauer war
niedergerissen und die Gebäude geplündert worden und
ausgebrannt.
Honorius führte sie mit einer krakeligen Landkarte in der
Hand in den Gebäudekomplex, wobei er etwas vor sich hinmurmelte
und die Karte in diese und jene Richtung drehte.
Eine dicke Pflanzenschicht war durch die Mosaiken und Fliesen
gebrochen, und Efeu klammerte sich an vom Feuer gesprungene Mauern.
Hier musste ein richtiger Todeskampf stattgefunden haben, sagte
Athalarich sich, als das tausendjährige Imperium
schließlich die Kraft verließ und sein Schutz verloren
war. Aber die Anwesenheit der neuen Vegetation inmitten des Verfalls
hatte irgendwie etwas Beruhigendes. Es war sogar eine tröstliche
Vorstellung, dass in ein paar Jahrhunderten dieser Ort von der Natur
zurückerobert sein würde und nichts mehr vom ihm übrig
außer ein paar Erhebungen in der Landschaft und seltsam
geformte Steine, an denen ein unvorsichtiger Bauer sich den Pflug
beschädigen konnte.
Honorius brachte sie zu einem kleinen Gebäude in der Mitte
des Komplexes. Es hatte sich vielleicht einst um einen Tempel
gehandelt, war aber auch ausgebrannt und zerstört wie der Rest.
Die Träger mussten erst einmal ein Gewirr aus Ranken und Efeu
wegreißen. Honorius suchte den Boden ab. Schließlich hob
er mit einem triumphierenden Ruf einen Knochen auf, eine Capula von
der Größe eines Esstellers. »Wusste ich es doch! Die
Barbaren haben das eitle Gold und das glänzende Silber
mitgenommen, aber von den wahren Schätzen hier wussten sie
nichts…«
Beim Anblick von Honorius’ spektakulärem Fund
wühlten auch die anderen mit der Begeisterung von Goldsuchern im
Erdboden und in der Vegetation. Selbst die tölpelhaften
Träger schienen von intellektueller Neugierde ergriffen,
vielleicht zum ersten Mal im Leben. Bald förderten sie alle
große Knochen, Stoßzähne und sogar missgestaltete
Schädel zutage. Es war ein höchst aufregender Moment.
»Dies war einmal ein Knochen-Museum, das von Kaiser Augustus
daselbst errichtet wurde!«, sagte Honorius. »Der Biograph
Sueton sagt uns, dass es ursprünglich auf der Insel Capri
eingerichtet wurde. In späteren Zeiten überführten
Augustus’ Nachfolger die besten Stücke hierher. Ein paar
Knochen sind schon zersplittert – wie dieser hier
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