Evolution
saßen im verwüsteten Atrium der gemieteten Villa.
Es war noch immer warm und schwül, obwohl es schon Abend war,
doch die Weinranken, das Summen der Insekten und das üppig
wuchernde Grün ums Atrium verliehen dem Ort ein fast lauschiges
Ambiente.
Und an diesem Ort des Verfalls versuchte Honorius über vielen
Gläsern Wein den Mann aus der Wüste zu überzeugen,
dass er noch viel weiter mit ihm reisen müsse: durch die
Trümmer des Imperiums gen Westen bis zu den Gestaden des
Weltenmeeres selbst. Also erzählte er ihm Geschichten von der
Geburt und dem Tod der Götter.
Eine weitere Generation des Lebens war vergangen, und weitere
Lebensformen entwickelten sich. Die Titanen Kronos und Rhea zeugten
die künftigen Götter des Olymp – darunter Jupiter.
Dann führte Jupiter die neuen Götter in Menschengestalt
gegen ein Bündnis der alten Titanen, Riesen und Ungeheuer. Es
war ein Krieg um die Vorherrschaft im Kosmos selbst.
»Das Land wurde zerschmettert«, flüsterte Honorius.
»Inseln stiegen aus der Tiefe empor. Berge stürzten ins
Meer. Flüsse versiegten oder änderten ihren Lauf und
überschwemmten das Land. Und die Ungeheuer starben, wo sie
fielen.
Aber die Naturphilosophen«, fuhr Honorius fort, »haben
seit jeher die Mythen zu widerlegen versucht – sie forschen nach
natürlichen Ursachen –, und vielleicht haben sie auch
recht. Manchmal gehen sie aber zu weit. Aristoteles sagt, dass
Lebewesen sich immer nach dem Ebenbild ihrer Vorfahren fortpflanzen
und dass die Arten des Lebens für alle Zeiten festgeschrieben
seien. Wie will er damit aber die Gebeine der Riesen erklären,
die wir aus der Erde holen? Aristoteles hat sein Lebtag lang
wahrscheinlich keinen einzigen solchen Knochen gesehen. Bei dem Ding,
das im Stein des Museums eingebettet ist, handelt es sich vielleicht
um einen Greif oder auch nicht. Aber ist es nicht klar, dass die
Knochen alt sind? Wie lang mag es wohl dauern, bis Sand in
Gestein sich verwandelt? Was ist dieser Stein anderes als ein Beweis
für verschiedene Zeiten in der Vergangenheit?
Schaut hinter die Geschichten. Lauscht der Essenz dessen, was die
Mythen uns sagen: dass die Erde in der Vergangenheit von anderen
Kreaturen bevölkert wurde – von Arten, die sich manchmal
nach dem Ebenbild ihrer Vorfahren fortpflanzten und die manchmal
Mischformen und Ungeheuer hervorbrachten, die sich von ihren Eltern
grundlegend unterschieden. Wie man es an den Knochen sieht! Wie auch
immer die Tatsachen sein mögen, ist es nicht klar, dass die
Mythen einen wahren Kern haben? Denn sie sind das Ergebnis eines
tausendjährigen Studiums der Erde und der Interpretation ihrer
Bedeutung. Und doch…«
Athalarich legte seinem Freund die Hand auf den Arm.
»Beruhigt Euch, Honorius. Wir verstehen Euch gut. Es ist nicht
nötig, zu schreien.«
Der vor Erregung zitternde Honorius sagte: »Ich sage, wir
dürfen die Mythen nicht ignorieren. Vielleicht sind sie
Erinnerungen, die besten Erinnerungen, die wir an die großen
Kataklysmen und außergewöhnlichen Ereignisse der
Vergangenheit haben und die von Menschen geschaut wurden, die
vielleicht kaum verstanden, was sie sahen – Menschen, die selbst
vielleicht nur halbe Menschen waren.« Er sah, dass Athalarich
die Stirn runzelte. »Ja, halbe Menschen!« Honorius
präsentierte den Schädel mit dem menschlichen Gesicht und
der affenartigen Hirnschale, den der Skythe ihm gegeben hatte.
»Ein Mensch und doch kein Mensch«, murmelte er. »Das
ist das größte Geheimnis überhaupt. Was kam vor uns?
Was vermag eine solche Frage zu beantworten – was außer
den Knochen? Mein Herr Skythe, Ihr sagtet mir, dass dieser
Schädel aus dem Osten käme.«
»Der Skythe vermag nicht zu sagen, woher er stammt«,
dolmetschte Papak. »Er ist durch viele Hände gegangen und
nach Westen gereist, bis er Euch erreichte.«
»Und bei jedem Geschäft«, murmelte Athalarich
beinahe hellsichtig, »ist zweifellos der Preis
gestiegen.«
Papak wölbte die Augenbrauen, als er das hörte.
»Man sagt, dass im Land der Leute mit der fahlen Haut und den
schmalen Augen weit im Osten solche Knochen überall zu finden
seien. Die Knochen werden zu Medizin und Liebespulver zermahlen und
um den Ertrag der Felder zu steigern.«
Honorius beugte sich vor. »Dann wissen wir also, dass im
Osten eine Rasse von Leuten mit menschlicher Gestalt, aber mit einem
kleinen Kopf lebte. Tiermenschen«, sagte er mit
zitternder Stimme. »Und was, wenn ich euch sage, dass es im
äußersten Westen, am Rand der Welt
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