Evolution
war sie etwa zwanzig Jahre jünger als ihr
Mann, und es war allgemein bekannt, dass sie zuhause ›das Sagen
hatte‹.
Mit einem bedrückten Ausdruck im bärtigen Gesicht legte
Theoderich seinem Neffen die Hand auf den Arm. »Athalarich, wir
brauchen deine Hilfe.«
»Ihr habt einen Auftrag für mich?«
»Nicht ganz. Wir haben einen Auftrag für Honorius, und
wir möchten, dass du ihn dazu überredest, ihn anzunehmen.
Wir wollen versuchen, es dir zu erklären…«
Während Theoderich sprach, spürte Athalarich, wie Galla
ihn mit kühlen Augen musterte und dabei die vollen Lippen leicht
geöffnet hatte. Es kursierte der Mythos unter den letzten
Römern, dass die Barbaren eine junge und vitale Rasse seien.
Wenn Galla mit Männern intim wurde, die in ihren Augen kaum
besser als Wilde waren, suchte sie vielleicht die animalische Kraft,
die sie in der Ehe mit einem verweichlichten römischen
Bürger vermisste.
Athalarich, der gerade einmal fünf Jahre älter war als
Gallas Zwillinge, wollte sich aber nicht als Spielzeug für eine
dekadente Aristokratin hergeben. Er erwiderte ihren Blick kühl
und desinteressiert.
Dieses subtile Spiel fand statt, ohne dass Theoderich auch nur das
Geringste davon mitbekommen hätte.
»Athalarich«, sagte Galla nun, »wenn ich mich recht
erinnere, war Eurichs Königreich vor drei Jahrzehnten noch eine
föderale Siedlung innerhalb des Imperiums. Die Dinge haben sich
schnell verändert. Aber es gibt strikte Grenzen zwischen unseren
Völkern. Sie betreffen Eheschließungen, das Gesetz und
sogar die Kirche.«
»Sie hat recht, Athalarich«, sagte Theoderich seufzend.
»Es gibt viele Spannungen in unsrer jungen
Gesellschaft.«
Athalarich wusste, dass dem so war. Die neuen Barbaren-Herrscher
lebten nach ihren traditionellen Gesetzen, die sie als Teil ihrer
Identität betrachteten, wogegen ihre Untertanen am
römischen Recht festhielten, das sie als universales Regelwerk
betrachteten. Auseinandersetzungen über unterschiedliche
Bestimmungen in beiden Systemen waren an der Tagesordnung. Ehen
zwischen den Völkern waren zwischenzeitlich auch verboten
worden. Obwohl alle Ethnien christlich waren, folgten die Goten den
Lehren des Arius, was ihnen die Feindschaft ihrer überwiegend
katholischen Untertanen eintrug. Und so weiter.
All das behinderte die Assimilierung, die die alten Römer
für so viele Jahrhunderte so erfolgreich betrieben hatten –
eine Assimilation, die Stabilität und sozialen Frieden
garantiert hatte. Wäre dieses Land noch immer unter
römischer Herrschaft gewesen, dann hätte Theoderich die
besten Aussichten gehabt, ein gleichberechtigter römischer
Bürger zu werden. Doch die Söhne von Galla würden von
den Goten niemals als gleichberechtigt anerkannt und von der Macht
ausgeschlossen werden.
Athalarich hörte höflich zu. »Es ist schwierig,
aber wenn Honorius mich etwas gelehrt hat, dann das, dass die Zeit
lang ist und dass sich mit der Zeit alles ändert. Vielleicht
werden diese Schranken eines Tages fallen.«
Theoderich nickte. »Ich glaube das auch. Deshalb habe ich
dich auch auf eine römische Schule geschickt und dann zu
Honorius.« Er stieß ein glucksendes Lachen aus. »Mein Vater hätte das niemals erlaubt. Er hatte
für Schulen nichts übrig! Wenn du nun lernst, den Riemen
eines Lehrers zu fürchten, wirst du niemals lernen, einem
Schwert oder Speer furchtlos entgegenzutreten. Für ihn waren
wir in erster Linie Krieger. Aber wir, die heutige Generation, ist
anders.«
»Umso besser«, sagte Galla. »Das Imperium wird nie
mehr auferstehen. Aber ich glaube fest daran, dass eines Tages, aus
der Verbindung unserer Völker hier und auf dem ganzen Kontinent,
eine neue Macht mit einer neuen Vision entstehen wird.«
Athalarich hob die Augenbrauen. Irgendwie erinnerte ihr Ton ihn
unangenehm an Papak, und er fragte sich, was sie seinem Onkel wohl
unterjubeln wollte. »Aber in der Zwischenzeit«, sagte er
trocken, »bevor dieser wunderbare Tag kommt…«
»In der Zwischenzeit mache ich mir Sorgen um meine
Kinder.«
»Wieso? Sind sie in Gefahr?«
»Eigentlich schon«, sagte Galla und machte kein Hehl aus
ihrer Verärgerung. »Ihr seid zu lang fort gewesen, junger
Mann, oder Ihr habt Euch zu sehr in Honorius’ Lehren
vertieft.«
»Es haben Übergriffe stattgefunden«, sagte
Theoderich. »Beschädigung von Eigentum, Brandstiftung,
Diebstahl.«
»Gegen die Römer gerichtet?«
»Leider ja«, sagte Theoderich seufzend. »Ich, der
ich mich noch daran erinnere, wie es
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