Evolution
uralte Kalkukation: In schweren Zeiten zahlte es sich
aus, die verwundbaren Jungen zu opfern und die ausgereiften
Individuen am Leben zu erhalten, die in besseren Zeiten wieder
Nachwuchs bekommen würden.
Aber das Kind war fast schon alt genug, sich selbst zu
ernähren. Es fehlte nicht mehr viel, und es wäre
lebensfähig gewesen. Und es war Ultimas Baby: Das erste,
das sie bekommen hatte und vielleicht auch das einzige, das sie je
bekommen durfte. Es war ein Widerstreit uralter Instinkte. Und das
war ein Versagen der Adaption, dieser Konflikt der Instinkte.
Es war ein urzeitliches Kalkül, eine alte Geschichte, die von
unzähligen Großmüttern an unzählige Generationen
weitergegeben worden war. Doch für Ultima, hier am Ende der
Zeit, war dieses Dilemma so schmerzlich, als ob es eben erst im
Höllenfeuer geschmiedet worden wäre.
Es dauerte eine Weile, bis die Entscheidung fiel. Und am Ende war
die Bindung zwischen Mutter und Kind stärker als die Bande
zwischen Symbionten. Sie stieß die Hände in die
baumwollartige Substanz und riss ihr Kind aus dem Kokon. Sie zog die
Bauch-Wurzel heraus und die weißen Fasern aus Mund und Nase.
Das Kind öffnete mit einem schmatzenden Geräusch den Mund
und drehte den Kopf in alle Richtungen…
Kaktus schaute erstaunt zu. Ultima stand keuchend und mit offenem
Mund da.
Was nun? Ultima stand mit dem Baby im Arm da. Sie hatte sich dem Baum widersetzt, dem sie ihr Leben verdankte, und war nun auf
sich allein gestellt – ohne durch Instinkt oder Erfahrung auf
diese neue Situation vorbereitet worden zu sein. Aber der Baum hatte versucht, ihr Baby zu töten. Sie hatte keine Wahl
gehabt.
Sie trat einen Schritt vom Baum zurück. Dann noch
einen. Und wieder einen.
Bis sie rannte, an der Stelle vorbei rannte, wo sie nach dem Salz
gegraben hatte – die Sphäre war verschwunden und nur noch
eine vage Erinnerung –, und sie rannte immer weiter mit dem Baby
im Arm, bis sie zu den Wänden des Steinbruchs kam, die sie
blitzschnell erklomm.
Sie schaute nach unten in die Grube, deren Boden mit den geduckten
stummen Gestalten der Borametz-Bäume durchsetzt war. Und da kam
Kaktus mit einem trotzigen Grinsen angerannt.
II
Das Land war kahl. Es gab ein paar verkrüppelte Bäume
und Büsche mit steinharter Rinde und nadelspitzen Blättern,
außerdem Kakteen, die so klein und hart wie Kieselsteine und
mit langen, giftigen Stacheln gespickt waren. Diese Pflanzen
schützten ihre Wasservorräte und hatten sich
buchstäblich eingeigelt; Ultima und Kaktus würden nur im
äußersten Notfall das Risiko eingehen, die Verteidigung zu
durchbrechen.
Man musste aufpassen, wohin man die Füße und Hände
setzte.
Es gab Löcher im roten Wüstenboden. Sie leuchteten in
einem kräftigen Rot und sahen irgendwie aus wie Blumen; sie
hoben sich kaum gegen den roten Erdboden ab und fielen eigentlich nur
wegen der dunklen Knoten in der Mitte auf. Leichtsinnige Eidechsen
und Amphibien, und hin und wieder sogar ein Säugetier liefen in
diese gut getarnten Fallen – und entkamen ihnen auch nicht mehr,
weil diese Löcher nämlich Münder waren.
Diese tödlichen Mäuler gehörten Kreaturen, die in
engen Bauten unter der Erdoberfläche lebten. Bei den haarlosen
und augenlosen Wesen mit Beinen, die zu flossenartigen Stummeln mit
Grabklauen verkürzt worden waren, handelte es sich um Nagetiere.
Sie gehörten zu den letzten Nachfahren der Abstammungslinien,
die einst den Planeten beherrscht hatten.
Dieses offene Terrain ohne jede Deckung begünstigte keine
großen Räuber, und die Überlebenden hatten neue
Strategien entwickeln müssen. Diese wühlenden
Ratten-Mäuler hatten die Umtriebigkeit und das Sozialverhalten
ihrer Vorfahren längst verloren und fristeten ihr Dasein nun in
Erdlöchern. Die von den Klima-Exzessen abgeschirmten
Ratten-Mäuler hatten einen langsamen Metabolismus und sehr
kleine Gehirne, und sie verließen die Bauten nur, wenn sie den
Drang zur Paarung verspürten. Sie stellten kaum Ansprüche
ans Leben und waren auf ihre Weise zufrieden.
So schlauen Geschöpfen wie Ultima und Kaktus fiel es aber
nicht schwer, den Ratten-Mäulern auszuweichen. Seite an Seite
gingen die Gefährtinnen weiter.
Sie kamen zu einer schmalen Rinne; sie war fast völlig mit
Geröll verstopft, das das Regenwasser hier abgelagert hatte.
Aber es floss immer noch ein Rinnsal salzigen Wassers. Ultima und
Kaktus gingen in die Hocke, wobei Ultima das Baby abschirmte, und
dann tauchten sie das Gesicht ins Wasser
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