Evolution
und tranken dankbar.
Ultima fand etwas Grünes in der Feuchtigkeit. Es war eine Art
Blatt – länglich, dunkel und leicht gewölbt. Die Form
war uralt und sogar zu primitiv, um auf die Idee zu kommen, dem Licht
entgegen zu streben. Es handelte sich um den Abkömmling eines
Lebermooses, das sich im Lauf der Zeit kaum verändert hatte. Es
war eine fast unveränderte Kopie einer der ersten Pflanzen, die
das Land kolonisiert hatten – ein Land, das sich nicht allzu
sehr von diesem unwirtlichen Ort unterschieden hatte. Die Geschichte
hatte sich wiederholt, und das Lebermoos hatte einen Lebensraum
gefunden. Neugierig zupfte Ultima das Blatt vom Stein, an dem es
haftete. Sie kaute es – es schmeckte wachsartig und klebrig
–, küsste ihr Kind und fütterte es mit dem Blatt. Das
Baby schlürfte es mit einem saugenden Geräusch und rollte
dabei die kleinen Augen.
In der Nähe eines dieser kieselsteinartigen Kakteen
erspähte Ultima einen Käfer mit einem silbernen
Rücken, der versuchte, ein Dungkügelchen durch eine schmale
Spalte zu schieben. Ultima spielte kurz mit dem Gedanken, sich den
Käfer zu schnappen.
Als der Käfer in den Schatten des Kaktus eintauchte, schoss
eine kleine rote Gestalt aus der Dunkelheit. Es war eine Eidechse,
kürzer als Ultimas kleiner Finger, und der Kopf war noch kleiner
als der Käfer selbst. Trotzdem schloss die Eidechse die Kiefer
ums Hinterteil des sich mühenden Käfers. Ultima hörte
ein leises Knirschen: Der Käfer wedelte mit den Beinen und
Antennen, vermochte aber nicht loszukommen. Nach dem Energieausbruch
breitete die Eidechse segelartige Lappen am Hals und an den Beinen
aus. Durch die Kühlflächen wirkte die Eidechse gleich
doppelt so groß wie zuvor, aber durch die rote Farbe war sie
trotzdem gut im Staub Pangäas getarnt. Vor Überhitzung
geschützt schickte sie sich nun an, dem Käfer die salzigen
Lebenssäfte aus dem Panzer zu saugen.
Doch dieser Genuss war der Eidechse nicht vergönnt. Wie aus
dem Nichts kam ein Vogel zum Schauplatz gerannt. Das Wesen hatte ein
schwarzes Gefieder und darunter verborgene rudimentäre
Flügel – es war flugunfähig. Ohne zu zögern und
mit tödlicher Präzision stürzte der Vogel sich auf die
Eidechse und öffnete einen gelben Schnabel voller winziger
Zähne. Die Eidechse ließ den Käfer los, faltete die
Kühlflächen zusammen und versuchte sich unter den Kaktus zu
flüchten. Doch der Vogel hatte das Reptil schon an einem Bein
gepackt und zog es zurück ins Licht, wobei er den kleinen
Körper heftig durchschüttelte.
Der verstümmelte Käfer schleppte sich davon, nur um von
Kaktus’ kleiner Pfote aufgehoben und zum Mund geführt zu
werden.
Es gab viele Vögel in der Gegend; diese uralte Linie war
nämlich viel zu anpassungsfähig, um nicht auch in dieser
lebensfeindlichen, umgemodelten Welt einen Platz zu finden. Aber es
gab dieser Tage kaum noch fliegende Vögel. Wozu sollten sie noch
fliegen, wenn es kein Flugziel gab, das nicht genauso aussah wie das hier? Also hatten die Vögel den Flugbetrieb
eingestellt und in der großen Einöde viele Formen
ausgeprägt.
Nun schossen noch mehr Eidechsen unter dem Kaktus hervor, die
durch den Angriff des Vogels aufgeschreckt worden waren. Es waren
ihrer viele, und alle waren sie kleiner als das Sonnensegel, das der
Vogel sich geschnappt hatte – sie waren sogar kleiner als
Ultimas Fingernagel. Sie waren so winzig, dass sie die Kieselsteine
und Rinnen im Boden wie Berge und Täler überwinden mussten,
sah Ultima. Die aus dem Schlaf gerissenen Kreaturen huschten in alle
Richtungen und suchten Deckung unter den Felsbrocken und Steinen.
Ultima schaute fasziniert zu.
In dem Maß, wie Pangäa verdorrte, waren die
größeren Spezies ausgestorben. In der Wüstenei des
Superkontinents gab es keinen Unterschlupf für ein Lebewesen von
Ultimas Größe und schon gar nicht für eine Gazelle
oder einen Löwen. Im größten Maßstab war das
uralte ›Räuber und Beute‹-Spiel ausgespielt.
Doch im kleineren Maßstab fasste eine neue Ökologie
Fuß. Unter Ultimas Füßen waren Ritzen im Stein und
Trichter im Sand, es waren Löcher in Borametz-Bäumen und im
Wurzelgeflecht. Noch in der flachsten Landschaft gab es eine
Topographie, wo man sich vor Räubern zu verbergen oder in den
Hinterhalt zu legen vermochte – oder auch nur sich einzugraben
und vor der Welt zu verstecken, falls man klein genug war.
Wenn die Welt der kleinen Maßstäbe auch noch viele
Möglichkeiten bot, so war sie aber auch eine Welt,
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