Evolution
Sie war weder warm noch kalt. Sie
war glatt, glatter als alles, was sie je zuvor berührt
hatte. Die Härchen auf der Hand sträubten sich, als ob sie
statisch geladen wären. Und sie roch etwas, den Geruch der
Wüste selbst – einen versengten, verbrannten und trockenen
Geruch.
Der Geruch nach verschmortem Metall war das Resultat der
Exposition gegenüber dem Vakuum: ein Vermächtnis des
Weltraums.
Einer nach dem andern kehrten die Leute vom Sammeln zum Baum zurück, kletterten auf die Äste und wickelten sich in
die Blätter.
Ultima zog die lederartigen Blätter um den Körper. Die
Bauch-Wurzel kroch auf sie zu, suchte das Ventil im Bauch und schob
sich hinein wie eine neu angeschlossene Nabelschnur. Als die salzige
Flüssigkeit in den Baum strömte, wurde Ultima mit
einem Gefühl der Sicherheit, des Friedens und der
Rechtschaffenheit belohnt. Diese Stimmung wurde von Chemikalien im Baumsaft induziert, den sie im Gegenzug für ihr Blut
erhielt, doch war es deshalb nicht weniger tröstlich. Damit
wurde sie unmittelbar dafür belohnt, dass sie den Baum ernährte, und die langfristige Belohnung war das Leben
selbst. Der Baum beherzigte das Prinzip von Geben und Nehmen.
Menschenabkömmlinge und Baum verhielten sich nicht wie
Parasiten zueinander. Sie bildeten eine echte Symbiose.
Aber etwas stimmte nicht. Ultima verspürte ein Unbehagen,
ohne dass sie dieses Gefühl zu artikulieren vermocht
hätte.
Obwohl der warme Saft sie mit grüner Schläfrigkeit
einlullte, musste sie ständig daran denken, wie das Kind im
Kokon gelegen hatte, mit dem Daumen im Mund und der vor ihm
zusammengerollten Bauch-Wurzel. Etwas hatte nicht gestimmt. Jeder Instinkt sagte ihr das.
Der Saft pulsierte stärker im Bauch, und einschläfernde
Chemikalien wurden ausgeschüttet. Mit dieser starken Dosis
wollte der Baum sie dazu bewegen, hier in der Sicherheit des
Kokons zu bleiben. Aber sie wurde das Gefühl einfach nicht los,
dass etwas nicht stimmte.
Sie zog die Bauch-Wurzel heraus und stemmte sich mit Schultern und
Beinen gegen den Kokon. Er platzte auf, und sie fiel auf den
Boden.
Sie wurde von Licht und Wärme überwältigt. Obwohl
die Sonne schon tief stand, war es immer noch heller Tag. Im Innern
des Kokons verstrich die Zeit in einem anderen Takt – nach einem
Takt, den der Baum vorgab. Aber der Boden war hart und
staubig. Außer ein paar Regenrinnen hatte es den Anschein, als
ob das Unwetter nie stattgefunden hätte.
Es war niemand zu sehen. Alle Kokons waren geschlossen – alle
außer einem. Kaktus schaute zu ihr herab; ihr kleiner Kopf
lugte aus dem halbgeschlossenen Kokon. Die verspielt wirkende Kaktus
schlüpfte zwischen den Blättern hervor und ließ sich
neben Ultima auf den Boden fallen.
Ultimas Unbehagen steigerte sich.
Sie lief um den Fuß des Baums herum und stellte fest,
dass der Kokon ihres Babys noch in der Astgabel war. Er war aber
dicht versiegelt und ließ sich auch nicht öffnen, als sie
es versuchte. Kaktus gesellte sich zu ihr, als ob das alles ein Spiel
wäre. Die beiden gruben die Finger in die Nahtstellen zwischen
den versiegelten Blättern und versuchten sie angestrengt
grunzend aufzubrechen.
Früher wäre eine Person auf die Idee gekommen, die
Kapsel mithilfe eines Werkzeugs zu öffnen. Aber das war einmal.
Es gab keine Werkzeugfertigung mehr, und alle Artefakte der Menschen
waren längst verrottet, außer ein paar
Pithecinen-Steinäxten, die in tiefen Erdschichten begraben
waren. Und Ultima und Kaktus waren mit der Lösung
ungewöhnlicher Probleme überfordert, weil die Routine auf
ihrer monotonen Welt kaum jemals unterbrochen wurde.
Schließlich öffnete der Kokon sich mit einem
Schmatzen.
Ultimas Baby war noch immer ins weiße baumwollartige
Material eingehüllt, mit dem der Kokon ausgekleidet war. Doch
Ultima sah auf den ersten Blick, dass die ›Baumwolle‹ sich verdickt hatte. Sie hatte sich ums
Gesicht des Babys geschlossen, und Tentakel schoben sich in Mund,
Nase, Augen und Ohren.
Kaktus wich mit einem Ausdruck des Ekels zurück.
Beide wussten, was das bedeutete. Sie hatten es zuvor schon
gesehen. Der Baum tötete Ultimas Baby.
Ein neues Pangäa.
Hundert Millionen Jahre, nachdem Erinnerung in ein namenloses Grab
gefahren war, hatte der amerikanische Doppelkontinent sich wieder
nach Osten bewegt. Während der Atlantik sich schloss, driftete
Afrika nordwärts über den Äquator und drückte
Eurasien infolgedessen noch weiter nach Norden. Derweil verschob
Antarktika sich auch nach
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