Evolution
für einen Moment. Wenn sie das Gelege
plünderte, ging sie ein Risiko ein. Durch das Nussknacken hatte
sie schon so viel Zeit verloren, dass sie den Anschluss an die Horde
zu verlieren drohte, und es wäre schlecht für sie, auf sich
allein gestellt zu sein. Zumal der Vogel auch eine Bedrohung
darstellte. Das staksende Ungeheuer war einer der letzten Vertreter
einer zwanzig Millionen Jahre alten Dynastie. Nach dem Kometen waren
die Landsäugetiere zunächst klein geblieben und hatten sich
in den dichten Wäldern bedeckt gehalten. Manche Vögel waren
jedoch richtig groß geworden, und flügellose Ungeheuer wie
dieses hatten die Rolle des ›Räuberhauptmanns‹
angestrebt. Ohne die durch den Flug auferlegten
Gewichtsbeschränkungen hatten sie einen schweren,
muskulösen Körperbau und enorme Kräfte entwickelt und
Schnäbel, die eine Wirbelsäule zu brechen vermochten. Aber
sie waren zu spät gekommen: Je größer die
Säugetier-Pflanzenfresser wurden, desto größer wurden
auch die Säugetier-Fleischfresser, und mit denen vermochten die
Vögel nicht zu konkurrieren.
Die Eier waren da, direkt unter Streuner. Sie brauchte nur
zuzugreifen.
Wenn sie älter gewesen wäre und besser in die Gruppe
integriert, hätte sie vielleicht eine andere Entscheidung
getroffen. Doch nun kletterte sie an der rauen Baumrinde hinab auf
den Boden, wobei ihr schon das Wasser im Mund zusammenlief. Es war
diese eine Entscheidung, die die Weichen für ihr ganzes Leben
stellte – und für das weitere Schicksal der großen
Primaten-Familie.
Sie hatte die Reste des Nusskerns fallenlassen. Hinter ihr verlor
der kleine Rote die Geduld und machte sich über die
süßen Brocken her. Doch schon im nächsten Moment
schwärmten seine Artgenossen über den Ast aus und raubten
ihm die Beute.
Während sie den Baum hinabkletterte, scheuchte Streuner eine
Schar Brüllaffen auf. Diese Primaten waren sehr klein und hatten
Mähnen aus feinem, seidigem Haar und bizarre weiße
Schnurrbärte. Sie wurden aufgeschreckt und verschwanden
kreischend im dichten Laub – sie wirkten fast vogelartig mit den
schnellen Bewegungen und dem dünnen hellen Fell.
Brüllaffen ernährten sich vom Harz der Bäume. Sie
gewannen es, indem sie die unteren Zähne in die Baumrinde
schlugen. Wenn sie sich satt gegessen hatten, urinierten sie in das
ausgebissene Loch, um anderen den Appetit zu verderben. Es gab viele
Arten dieser kleinen Geschöpfe, die sich jeweils auf das Harz
eines bestimmten Baums spezialisiert hatten und sich durch ihre
Haartracht unterschieden. Mit dem extravaganten Fell und den
trillernden Rufen erfüllten sie die Baumwipfel mit Farbe, Leben
und Lärm.
Auf dem Boden gab es noch eine weitere Primatenart. Es handelte
sich um einen Dickbauch, ein einzelnes Männchen.
Es war viermal so groß wie Streuner, und der massige Leib
war in ein dichtes schwarzes Fell gehüllt. Er saß reglos
da, zupfte unablässig Blätter von einem Busch und steckte
sie sich in sein großes Maul. Die Schnauze war
rußgeschwärzt: Er hatte Holzkohle von einem vom Blitz
gefällten Baum gefressen, die die Giftstoffe in seiner
pflanzlichen Nahrung neutralisierte.
Als Streuner auf den Boden hinuntersprang, schaute er sie finster
an, zog die Mundwinkel herunter und stieß ein Brüllen aus.
Sie ließ nervös den Blick schweifen, in der Furcht, dass
sein Gebrüll vielleicht die Aufmerksamkeit der sorglosen
Vogelmutter auf sich gezogen hätte.
Streuner hatte vom Dickbauch nichts zu befürchten. Er hatte
einen großen Magen mit einem Dünndarm, in dem die
nährstoffarme Nahrung teilweise fermentiert wurde. Und damit die
große organische Fabrik auch effektiv arbeitete, musste er
Dreiviertel der Zeit reglos verharren. Streuner hörte das
Rumoren des großen Magens. Das Geschöpf war aber
erstaunlich sauber; angesichts seines Lebensstils hätte es so
reinlich sein müssen wie eine Kanalratte. Als sie sich von
seinem Revier entfernte, fiel der Dickbauch in ein
verdrießliches Schweigen.
Die Waldlichtung war dicht bewachsen. Grasland war aber noch
selten. In Ermangelung von Gras war der Bodenbewuchs nirgends
höher als einen Meter und bestand aus kleinen Sträuchern
und Büschen wie Aloe, Kakteen und Fettpflanzen. Am
spektakulärsten waren große distelartige Pflanzen, die
gerade Blütezeit hatten und psychedelisch gefärbte
Blüten austrieben. Solche botanischen Wunder zierten die
Landmassen dieses Erdzeitalters, aber es war ein Ensemble, das in
menschlichen Zeiten ungewöhnlich war; es
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