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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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auch kein Ast in der Nähe, an dem sie das Ei
aufzuschlagen vermocht hätte. Nun versuchte sie, sich das ganze
Ei in den Mund zu stecken und es mit den kräftigen
Mahlzähnen zu knacken, aber das Ei passte nur zum Teil in den
kleinen Mund.
    Das Problem war, dass ihre Mutter immer die Eier für sie
aufgeschlagen hatte. Ohne die Mutter war sie jedoch
aufgeschmissen.
    Das Licht am Himmel schien heller zu werden, und es kam ein Wind
auf, der die Oberfläche der Teiche kräuselte und braune
Blätter über den Boden wehte. Sie verspürte einen
Anflug von Panik; sie hatte sich weit von ihrer Sippe entfernt. Sie
ließ das Ei wieder ins Nest fallen und griff nach einem
anderen.
    Plötzlich stieg ihr der süßliche Geruch von Dotter
in die Nase. Das Ei, das sie hatte fallenlassen, war auf die anderen
gefallen und dabei zerbrochen. Sie stieß die Hände in die
Trümmer und steckte das Gesicht in den süßen gelben
Glibber. Bald kaute sie auf winzigen Knochen herum. Als sie jedoch
ein weiteres Ei nahm, vermochte sie sich nicht mehr daran zu
erinnern, wie sie das erste geöffnet hatte. Der ganze
Versuch-und-Irrtum-Prozess ging von vorne los. Sie befingerte das Ei
und versuchte hineinzubeißen.
    Die Eier aufeinander fallen lassen – so hatte ihre Mutter sie
geöffnet. Doch selbst wenn ihre Mutter hier gewesen wäre
und ihr gezeigt hätte, wie sie es anstellen musste, hätte
Streuner die Technik nicht erlernt. Streuner war nämlich nicht
in der Lage, die Absichten anderer zu erkennen und vermochte auch
keine Handlungen nachzuahmen. Psychologie hatte für die Anthros
keine Geltung; jede Generation musste anhand elementarer
Rohmaterialien und Situationen alles von Grund auf neu erlernen. Das
hatte einen langsamen Lernfortschritt zur Folge. Trotzdem kam
Streuner bald zu einem zweiten Ei.
    Sie war so sehr mit dem Essen beschäftigt, dass sie die Augen
nicht bemerkte, die sie begierig musterten.
    Bevor sie ein drittes Ei aufschlug, setzte der Regen ein. Er
schien aus heiterem Himmel zu kommen – große Tropfen
fielen aus einem wolkenlosen, sonnigen Himmel.
    Ein starker Wind fegte über die Marschen. Watvögel
schwangen sich in den Himmel und flohen vorm aufziehenden Unwetter
gen Westen zum Meer. Die großen Pflanzenfresser schauten in
stoischer Ruhe zum Himmel empor. Das Krokodil tauchte ab und wartete
in den Tiefen seines trüben Reichs darauf, dass der Sturm sich
wieder legte.
    Und nun verdüsterten Wolken die Sonne, und Dunkelheit senkte
sich wie ein Deckel herab. Im Osten, wo der Sturm sich
zusammenbraute, ertönte Donnerhall. Es war ein Unwetter von
einer Heftigkeit, wie es das Land nur ein paar Mal in einem Jahrzehnt
heimsuchte.
    Streuner kauerte sich in dem verwüsteten Nest zusammen. Das
Fell klebte ihr schon am Körper. Die Regentropfen schlugen rings
um sie in den Boden ein, prasselten auf die tote Vegetation und
schlugen winzige Krater in den Lehm. So etwas hatte sie noch nie
erlebt. Sie hatte die Stürme immer in der relativen Sicherheit
der Bäume abgeritten, deren Laub das herabstürzende Wasser
streute und dämpfte. Doch nun war sie dem Unwetter schutzlos
ausgesetzt und wurde sich mit einem Mal bewusst, wie weit sie sich
von der Sippe entfernt hatte. Wenn sie in diesem Moment von einem
Räuber entdeckt worden wäre, hätte sie das vielleicht
das Leben gekostet.
    Aber wie der Zufall es wollte, wurde sie von einem Artgenossen
entdeckt: von einem Anthro, einem großen Männchen. Es fiel
vor ihr auf den aufgeweichten Boden und musterte sie reglos.
    Sie wimmerte erschrocken und näherte sich ihm vorsichtig.
Vielleicht war es eins von den Männchen, die ihre Sippe
dominierten – die lockere, zerfallende Horde, die sie als eine
Art multipler Vater betrachtete. Aber das war er nicht, wie sie
schnell feststellte. Das Gesicht, in dem das vom Regen
durchnässte Fell klebte, war fremdartig, und das schwarze
Bauchfell war mit einem eigenartigen Muster aus weißen Tropfen
gezeichnet, die beinahe wie Blut aussahen.
    Dieses Männchen – Weißblut – war doppelt so
groß wie sie und ein Fremder. Und Fremde verhießen nie
etwas Gutes. Sie wich kreischend zurück.
    Aber sie hatte zu spät reagiert. Er streckte die Hand aus und
packte sie am Schlafittchen. Sie wehrte sich zappelnd, aber er hob
sie mit einer solchen Leichtigkeit hoch, als ob sie eine Frucht
wäre.
    Dann schleppte er sie zurück in den Wald.
     
    Dass Weißblut Streuner – ein jugendliches Weibchen, das
noch dazu allein unterwegs war – entdeckt hatte, war

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