Evolution
Hagel ungezielter Schläge vermochte er
sich nicht einmal aufzurichten.
Schließlich wühlte er sich wie ein Taeniodont durch den
Mulch auf dem Waldboden und entzog sich dem Zugriff der wütenden
Meute. Als sie schließlich bemerkten, dass ihre Schläge
und Tritte nur den Dreck oder die anderen trafen, hatte Solo sich
schon davon geschleppt.
Zerschlagen und unter Schmerzen kletterte Noth wieder auf den
Baum. Oben angekommen sah er, dass die Weibchen sich ungerührt
kämmten und eingetrockneten Samen aus dem Haar um die Genitalien
zupften, als ob der Kampf dort unten nie stattgefunden hätte.
Der Kaiser saß still neben dem Weibchen Größte. Der
Blutfluss war versiegt, aber mit dem Kopulieren hatte es nun ein
Ende.
Und hier war Rivale, der Rechts deckte. Noth sah, dass seine
Schwester das Gesicht im Brusthaar verborgen hatte und hörte,
dass leise Lustschreie sich ihrer Kehle entrangen. Noth
verspürte ein eigenartiges warmes Glühen. Er war nicht
eifersüchtig auf die anderen Männchen wegen seiner
Schwester; nicht einmal auf dieses Männchen, das er besiegt und
das sich anscheinend sehr schnell wieder erholt hatte. Auf einer
tiefen biochemischen Ebene begriff er, dass durch die Schwangerschaft
seiner Schwester die Linie fortbestehen würde: der leuchtende
ununterbrochene molekulare Strang, der – von Purga ausgehend
– diesen von der polaren Sonne beschienenen Moment durchlief und
sich in unvorstellbare Zukünfte erstrecken sollte.
In der Ferne hörte er ein Träten. Es war der Ruf eines
Moeritheriums, der Matriarchin einer Herde, die langsam von
Süden sich näherte. Mit der Rückkehr der Herden war es
endlich wieder Sommer geworden. Im ganzen Wald ertönten hohe
Stimmen: Das war der Gesang der Notharctus, ein Lied der Einsamkeit
und des Wunders.
In ein paar Jahren würde Noths Leben vorbei sein. Bald
würde auch seine Art verschwunden sein, und ihre Nachfahren
würden eine neue Gestalt angenommen haben. Und bald,
während die Erde sich nach dieser Mittsommer-Warmphase
abkühlte, würde sogar der Polarwald schrumpfen und
absterben. Doch fürs erste genoss Noth – blutig, keuchend
und mit verschmutztem Fell – seinen Triumph, seinen Tag im
Licht.
Das Weibchen Groß näherte sich ihm. Er trillerte leise.
Mit einem Funkeln in den Augen krümmte sie den Rücken und
bot sich ihm dar. Noth drang schnell in sie ein, und seine Welt
versank in einem Freudentaumel.
KAPITEL 6
DIE ÜBERQUERUNG
Der Kongo, Westafrika,
vor ca. 32 Millionen Jahren
I
Kurz bevor er schließlich ins Meer mündete, wälzte
der mächtige Fluss sich träge zwischen Wänden aus
üppigem Regenwald dahin. Er hatte viele Schleifen und
Seitenarme, die vom Hauptstrom abgeschnitten waren und sich in
sumpfige Abschnitte und Tümpel verwandelt hatten. Es war, als ob
der Fluss nach der langen Reise erschöpft sei, auf der er das
Herz eines Kontinenten entwässerte.
Und in diesem Spätsommer hatte es viel geregnet. Der Fluss
führte Hochwasser und überschwemmte ein Land, dessen
Grundwasserspiegel ohnehin dicht unter der Erdoberfläche lag.
Das schmutzige Wasser transportierte erodiertes Gestein, Schlamm und
Lebewesen. Flöße aus ineinander verhakten Ästen und
Pflanzen trieben wie steuerlose Schiffe auf dem gewaltigen Strom
– Relikte, die bereits tausende Kilometer von ihrem Ursprung
entfernt waren.
Hoch über dem Wasser, im vielstimmigen Obergeschoss des
Waldes, vollführten die Anthros ihre tägliche
zerstörerische Prozession.
Sie waren wie Affen. Sie liefen über Äste, schwangen
sich mit den kräftigen Armen von Ast zu Ast, pflückten
Früchte, rissen Palmwedel ab und zogen Rinde ab, um an Insekten
zu gelangen. Weibchen streiften in Gruppen umher und gingen ihrer
Arbeit nach, wobei sie hin und wieder eine Pause einlegten und sich
der Fellpflege widmeten. Da waren Mütter mit Babys, die sich an
Rücken und Bauch klammerten. Sie wurden von Tanten-Gruppen
unterstützt. Die Männchen, die größer waren und
einen weiteren Aktionsradius hatten, bildeten lockere und steter
Veränderung unterliegende Allianzen, während sie um
Nahrung, Status und Zugang zu den Weibchen konkurrierten.
Mehr als dreißig Anthros arbeiteten hier. Sie waren schlaue
und gute Jäger und markierten ihre Jagdrouten mit Exkrementen.
Es herrschte ein fröhliches, lautstarkes Treiben, während
die Mitglieder der Gruppe aßen, arbeiteten und die Kräfte
maßen.
Streuner war im Moment allein und schwang sich von einem dicken
Ast zum nächsten.
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