Evolution
Obwohl sie hoch über dem Boden war, hatte
sie keine Angst zu fallen. Sie war hier in ihrem Element; ihr
Körper und Geist waren hervorragend an die Bedingungen dieses
undurchdringlichen Blätterdachs angepasst.
An der Küste, im Westen, gab es dichte Mangrovensümpfe.
Doch hier im Binnenland war der alte Wald reichhaltig und
vielgestaltig. Hier wuchsen mächtige Bäume mit ausladenden
Wurzeln: Papayas, Cashews und Fächerpalmen. Die meisten
Bäume trugen Früchte und waren reich an Harz und Ölen.
Es war ein ausgesprochen günstiger Platz zum Leben. Aber er war
auch das Relikt einer Welt, die dem Untergang geweiht war, denn die
Welt wurde seit Noths Zeit von einer starken Abkühlung
heimgesucht, und die einst weltumspannenden Wälder waren zu
kleinen Inseln geschrumpft.
Streuner fand eine Palmnuss. Sie setzte sich auf einen Ast und
inspizierte sie. Eine dicke grüne Raupe kroch über die
Schale. Sie leckte die Raupe ab und kaute sie genüsslich.
Die Horde brach geräuschvoll durch die Baumwipfel um sie
herum. Auch wenn sie allein war, wusste sie genau, wo die anderen
alle steckten. In den langen Jahren seit Noths Zeit hatte die soziale
Struktur der Primaten sich stetig weiter entwickelt: Für die
Anthros waren ihre Artgenossen nunmehr interessanter als tote
Gegenstände – sie waren die interessantesten Objekte in der
Welt. Streuner war sich der übrigen Horde so bewusst, als ob sie
wie eine Lampion-Reihe in den Baumkronen aufgehängt wäre
und den Rest der Welt zu einem amorphen Grau verdunkelte.
Streuner gehörte keiner der Spezies an, die jemals von
Menschen katalogisiert werden würde. Sie sah aus wie ein
Kapuzineräffchen, der ›Leierkasten spielende‹ Affe,
der eines Tages die Wälder Südafrikas durchstreifen
würde, und hatte auch in etwa seine Größe. Sie wog
nur ein paar Kilogramm und hatte ein dichtes schwarzes Fell mit
weißen Zeichnungen an Schultern, Hals und im Gesicht, womit sie
eben an einen Kapuzinermönch erinnerte. Arme und Beine waren
gelenkig und symmetrisch, ganz im Gegensatz zu Noth: Dieser
Körper-Bauplan war typisch für die Bewohner offener
Baumkronen. Die Nase war flach und hatte kleine, seitlich
ausgestellte Nasenlöcher, die für die Affen des
späteren Südamerika typisch waren und nicht für die
afrikanischen.
Sie sah aus wie ein Affe. Aber sie war kein Affe: Als entfernter
Nachfahr von Noths Adapiden gehörte ihre Art zu einem
Primatentyp mit der Bezeichnung Anthropoiden, den Vorläufern der
Affen und Menschenaffen – diese große Aufspaltung in der
Familie der Primaten sollte erst noch stattfinden.
Fast zwanzig Millionen Jahre nach dem Tod von Noth waren die
Kämm-Krallen der Notharctus-Füße bei Streuner durch
Fußnägel ersetzt worden. Sie hatte kleinere Augen als Noth
und wegen der kürzeren Schnauze ein weites räumliches
Blickfeld – und die Augen wurden durch eine feste
Knochenhöhle geschützt. Noths Augen waren nur durch einen
Knochenring geschützt worden, und seine Sicht wurde beim Kauen
sogar durch die Backenmuskeln beeinträchtigt. Außerdem
hatte Streuner viele der alten Nachtjagd-Merkmale verloren, über
die Noth noch verfügt hatte. Der Sinnes-Schwerpunkt hatte sich
vom Geruch zum Sehen verschoben.
Aus Rechts’ Enkeln war eine große Armee hervorgegangen.
Sie hatte sich über die Alte Welt ausgebreitet und die dichten
tropischen Wälder Asiens und Afrikas besiedelt. Auf der
Wanderschaft hatten sie sich weiterentwickelt, diversifiziert und
verändert. Die Linie der Anthropoiden aus der Alten Welt sollte
jedoch mit Streuner abbrechen. Streuner konnte nicht wissen, dass sie
ihre Mutter nie mehr wieder sehen sollte – und ihr Schicksal war
weitaus seltsamer als alles, was ihre unmittelbaren Vorfahren erlebt
hatten.
Durch das weiß gefleckte Fell wirkte Streuners Gesicht
skizzenhaft, unfertig und irgendwie wehmütig. Aber sie hatte
eine jugendliche Schönheit. Sie war drei Jahre alt und damit
noch ein Jahr von der Menarche entfernt. Sie hatte den
unabhängigen Geist einer jungen Frau und war noch nicht voll in
die Hierarchien und Bündnisse der Horde integriert. Vielmehr
wirkten bei ihr noch die solitären Instinkte der entfernten
Vorfahren. Sie blieb gern für sich. Zumal die Gruppe im Moment
keine sehr angenehme Gesellschaft war.
Die letzten paar Jahre waren eine Zeit des Überflusses
gewesen, und die Horde hatte sich zahlenmäßig
vergrößert. Ein Baby-Boom hatte stattgefunden, aus dem
auch Streuner hervorgegangen war. Allerdings brachte das
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