Evolution
Wachstum
auch Probleme mit sich. Einmal herrschte eine harte Konkurrenz um
Nahrung. Jeden Tag gab es Streitigkeiten.
Und dann war da das Kämmen. In einer kleinen Gruppe war genug
Zeit, um alle zu kämmen. Das unterstützte die Pflege von
Beziehungen und die Festigung von Allianzen. Wurde die Gruppe jedoch
zu groß, war dafür einfach keine Zeit mehr. Also bildeten
sich Cliquen und Untergruppen heraus, wo man gegenseitige Fellpflege
betrieb und die anderen ignorierte. Ein paar Cliquen gingen sogar
schon tagsüber eigene Wege und kamen nur noch zum Schlafen
zurück.
Irgendwann würde es die Gruppe zerreißen. Die Cliquen
würden sich absondern, und die Gruppe würde sich
auflösen. Jedoch mussten die neuen, kleineren Gruppen groß
genug sein, um sich vor Räubern zu schützen – was auch
der eigentliche Grund war, weshalb es am Tag überhaupt zur
Gruppenbildung kam –, sodass es noch eine lange Zeit, vielleicht
sogar Jahre dauern würde, bis eine Abspaltung vollzogen war. Das
geschah allenthalben. Es war eine zwangsläufige Folge der
wachsenden Primatengemeinschaften. Und es hatte ständige
Reibereien zur Folge.
Deshalb war Streuner froh, dem ganzen Hickhack für eine Weile
zu entrinnen.
Nachdem der Käfer gründlich zerkaut war, untersuchte
Streuner die Palmnuss. Sie wusste, dass der Kern eine Delikatesse
war, aber ihre Hände und Zähne waren zu schwach, um die
Schale aufzubrechen. Also schlug sie die Schale gegen den Ast.
Dann wurde sie sich zweier heller Augen bewusst, die sie
beobachteten. Sie gehörten einer schlanken rostroten Gestalt,
die sich an einen Ast klammerte. Sie machte sich aber keine Sorgen.
Das Männchen gehörte zu einem Primatentyp, der eng mit
Streuners Art verwandt war. Er war jedoch kleiner, schlanker –
und nicht annähernd so intelligent. Hinter ihm machte Streuner
noch mehr Exemplare dieser Art aus, die sich an die Äste dieses
und des nächsten Baums geklammert hatten und wie eine Kette sich
durch die grün illuminierte Welt des Waldes zogen. Der Fremde
wollte Streuner die Nuss nicht streitig machen und stellte schon gar
keine Bedrohung für sie dar; der kleine Primat hatte es nur auf
Streuners Reste abgesehen.
Streuner ernährte sich hauptsächlich von Früchten.
Doch die Rostroten fraßen – wie ihre Adapiden-Vorfahren
– vorwiegend Raupen und Insekten, die sie von den Ästen
klaubten, und sie hatten spitze kleine Zähne, um die erbeuteten
Insekten zu zerkleinern. Sie lebten in dichten mobilen Kolonien mit
fünfzig und mehr Tieren. Dies bot ihnen Schutz gegen Räuber
und andere Primaten: Selbst eine Rotte Anthros hätte
Schwierigkeiten gehabt, sich einer dieser flinken, koordinierten
Horden zu erwehren.
Streuner war jedoch viel intelligenter als jeder von diesen
Roten.
Es würde noch ein paar Dutzend Jahrmillionen dauern, bis ein
Primat etwas benutzte, das man als Werkzeug im eigentlichen Sinn zu
bezeichnen vermochte. Streuners Intelligenz war weitgehend
spezialisiert und dahingehend ausgeprägt, dass sie die
Wechselfälle ihres Soziallebens zu bewältigen vermochte.
Dennoch war Streuner intelligent genug, um die nähere Umwelt zu
begreifen und sie so zu manipulieren, dass sie bekam, was sie wollte.
Eine Nuss gegen einen Baum zu schlagen war kaum fortgeschrittene
Technik, aber sie war trotzdem gefordert, ein paar Schritte voraus zu
denken – der Ansatz eines viel größeren
Einfallsreichtums, der erst nach langer Zeit zum Tragen kommen
sollte. Und dieses Nussknacken war ein kognitiver Sprung, durch den
die Roten ins Hintertreffen geraten waren. Was auch der Grund
dafür war, dass sie sich hier versammelt hatten.
Streuner hörte ein Rascheln tief unter sich. Sie hielt sich
am Ast fest und lugte ins grüne Zwielicht.
Sie sah die Pflanzenreste auf dem Waldboden und eine schemenhafte
Gestalt, die mit raschelnden Federn und am Boden pickend zwischen den
Bäumen hindurch lief. Es war ein flügelloser Vogel in der
Art eines Kasuars. Und als sie den Weg zurückverfolgte, den der
Vogel bis zur Mitte der Lichtung genommen hatte, erkannte Streuner
etwas matt glänzendes Rundes.
Eier. Es waren zehn Stück, die im nachlässig gebauten
Vogelnest lagen. Ihr Eidotter war so groß wie Streuners Kopf.
In der Mittagsruhe und in Abwesenheit des Gefährten hatte der
Vogel das Nest kurz unbeaufsichtigt gelassen und darauf gehofft, dass
es unversehrt bliebe, während er seinen Hunger stillte. Er hatte
aber das Pech, dass Streuners scharfe Augen das Nest so schnell
entdeckten.
Streuner zögerte
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