Evolution
Sie
schnappte sich die Hand und zog sich so weit wie möglich von den
anderen in eine Ecke des Floßes zurück.
Die Hand war schlaff und entspannt, als ob sie zu einem
schlafenden Kind gehörte. Streuner strich sich damit kurz
über die Brust und erinnerte sich daran, wie Knäuel an
ihrem Fell gezupft hatte.
Doch Knäuel gab es nicht mehr.
Streuner biss dicht überm Knöchel in den Mittelfinger.
Das weiche Fleisch reizte den trockenen Gaumen. Mit einer schnellen,
ruckartigen Bewegung zog sie das Fleisch vom Knochen ab. So verfuhr
sie auch mit den anderen Fingern und verspeiste dann das weiche
Fleisch des Handballens. Als sie die Hand bis auf die Knochen
abgenagt hatte und nur noch ein paar Knorpel- und Fleischfetzen daran
hingen, zerbiss sie die winzigen Knochen und sog ein paar Tropfen
Mark aus.
Dann warf sie den Rest ins endlose Meer. Sie sah, wie kleine
silbrige Fische sich versammelten, ehe die Knochen noch in der Tiefe
versanken.
Fleck blieb zwei Tage lang in ihrem Nest und rührte sich
kaum. Die Männchen lagen reglos durcheinander und zupften sich
gelegentlich am immer dünner werdenden Fell.
Streuner schlich schlapp um den Baum herum und suchte nach
Linderung. Im Mund sammelte sich kein Speichel mehr. Die Zunge hatte
sich zu einem gefühllosen, unbeweglichen Klumpen verhärtet
und lag ihr wie ein Stein im Mund. Sie vermochte weder Rufe noch
Schreie auszustoßen und brachte nur noch ein unartikuliertes
Stöhnen hervor. Sie stocherte sogar im getrockneten Kot, den der
Dickbauch abgesondert hatte, und suchte nach Feuchtigkeit oder
vielleicht ein paar unverdauten Nusskernen. Der Dung des
Pflanzenfressers war jedoch unergiebig und trocken. Erschöpft
gab sie auf und dämmerte in einem Zustand zwischen Schlaf und
Wachen vor sich hin.
Am dritten Tag nach Knäuels Tod begann Fleck sich wieder zu
regen. Streuner beobachtete sie apathisch.
Fleck kroch auf allen vieren und taumelte benommen, weil der
Flüssigkeitshaushalt nach der langen Ruhepause aus dem Lot
geraten war – und Streuner sah, dass sie sich an den Bauch
fasste. Sie war schwanger von Weißblut, und diese
Schwangerschaft entzog dem ausgezehrten Körper auch noch die
letzten Reserven. Sie rappelte sich aber wieder auf und näherte
sich den Männchen.
Brille setzte sich bei Flecks Annäherung nervös auf, als
ob er mit einem Angriff rechnete. Streuner sah, wie ihm die schwarz
verfärbte Zunge aus dem Mund hing. Das Gesichtsfell war noch
immer mit Knäuels Blut verschmiert.
Fleck setzte sich jedoch nur neben ihn und fuhr ihm mit den
Fingern durchs Fell. Das Kämmen hatte aber nicht die
übliche wohltuende Wirkung. Bei allen hatte das Fell sich
gelichtet, und die Haut war mit Geschwüren und Wunden bedeckt,
die nicht heilen wollten. Sie riss Narben auf und drückte auf
Blutergüsse. Aber er ließ es dennoch geschehen und genoss
die Zuwendung trotz der Schmerzen.
Und dann löste sie sich von ihm, drehte sich um und bot ihm
das Hinterteil dar. Sehr attraktiv war sie in diesem Moment aber
nicht. Das Fell war struppig, die Haut rissig, und die Schwellung im
Genitalbereich hatte sich schon vor Tagen zurückgebildet.
Trotzdem sprach Brille darauf an, als sie ihm das Hinterteil gegen
den Oberkörper drückte, und alsbald stach eine dürre
Erektion aus dem verfilzten Bauchfell.
Nun nahm Weißblut diese Missachtung der Hierarchie
schließlich doch zur Kenntnis. Das war etwas anderes als sein
eigenes Täuschungsmanöver; das vermochte er nicht zu
dulden. Mit einem Ruck richtete er sich auf und stieß mit der
geschwollenen Zunge ein unartikuliertes Brüllen aus. Brille wich
zurück.
Plötzlich griff Fleck Weißblut an, rammte ihm den Kopf
in die Brust und schlug ihn mit den Fäusten gegen die
Schläfen. Er fiel erschrocken um. Dann lief Fleck zu den anderen
Männchen zurück, präsentierte ihnen die Kehrseite und
stieß heisere Rufe aus. Und dann stürzte sie sich wieder
auf Weißblut.
In diesem Moment wurden neue Bündnisse geschlossen und
Rangordnungen aufgehoben. Ohne sich auch nur anzuschauen, trafen die
beiden Brüder eine schnelle Entscheidung und unterstützten
Fleck beim Angriff auf Weißblut. Weißblut setzte sich zur
Wehr und blockte die Schläge ab, mit denen sie ihn
eindeckten.
Es war ein grotesker Kampf, der von vier so schwachen Kreaturen
ausgefochten wurde. Die Schläge und Tritte waren kraftlos und
wurden zeitlupenartig ausgeteilt. Und der Kampf fand in einer Stille
statt, die nur von einem erschöpften und schmerzerfüllten
Japsen
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