Evolution
Gliedmaßen, bis Knorpel rissen und Knochen
knackten. Aber es war gar nicht einmal das Fleisch, auf das die
Männchen es abgesehen hatten, sondern das Blut, das aus dem
aufgerissenen Hals des Kinds floss. Sie tranken gierig die warme
Flüssigkeit, bis Münder und Zähne sich hellrot
gefärbt hatten.
Fleck heulte, warf sich in Drohpositur, tobte auf dem Floß
herum, wobei sie an Ästen und Blättern zerrte, und schlug
die Männchen auf den Rücken. Das Floß erzitterte und
schwankte, sodass Streuner sich ängstlich an den Ast klammerte.
Aber es war nicht mehr zu ändern.
Weißblut hatte ihr im Grunde auch nichts vorgemacht. Genauso
wenig wie sein Altvorderer Noth vermochte er sich in andere
hineinzuversetzen und war deshalb auch nicht in der Lage, falsche
Maximen in ihre Köpfe zu pflanzen – jedenfalls nicht
wirklich. Die Anthros hatten jedoch eine hohe soziale Intelligenz und
verfügten über eine gute Problemlösungs-Kompetenz,
wenn sie neuen Herausforderungen gegenüberstanden.
Weißblut, der auf seine Art ein Genie war, hatte diese Facetten
zu kombinieren und einen Plan zu entwickeln vermocht, Knäuel
seiner Mutter erfolgreich zu entwenden.
Mit einem letzten heiseren Schrei warf Fleck sich gegen den
Mangobaum und baute sich aus abgebrochenen Ästen eine Art Nest.
Und noch immer labten die Männchen sich an ihrer Beute,
begleitet von lautem Schmatzen und dem Knacken der Knochen zwischen
den Zähnen.
Streuner, deren Kopf vom Gestank des Bluts erfüllt war, ging
zum Rand des Floßes, wo tote Äste wie Finger im Wasser
trieben.
Das trübe Meerwasser war wie eine dünne Suppe und voller
Leben. Die oberen, von der Sonne durchdrungenen Schichten waren mit
Algenplankton angereichert, einer kompakten mikroskopischen
Ökologie. Das Plankton war wie ein Wald im Meer, wobei dieser
Wald jedoch seines Überbaus aus Blättern, Zweigen,
Ästen und Baumstämmen entkleidet war und nur noch die
winzigen chlorophyllhaltigen Zellen der Baumkronen übrig waren,
die in der reichen Nährlösung schwammen. Obwohl sich die
ökologische Struktur des Planktons in einer halben Milliarde
Jahren nicht verändert hatte, waren die Spezies in ihm gekommen
und gegangen und der Variation und Auslöschung zum Opfer
gefallen wie andere auch; genauso wie an Land wurden in diesem
Wasserreich Spiele über viele Runden ausgetragen, wobei die
Akteure immer wieder ausgewechselt wurden.
Eine Qualle trieb vorbei. Dieser Planktonfresser war ein
durchsichtiger Sack, der sich träge ausdehnte und zusammenzog.
Er war mit silbrigen fransenartigen Tentakeln besetzt, die Giftzellen
enthielten, mit denen das Plankton gelähmt wurde.
Verglichen mit den meisten Tieren war die Qualle eine primitive
Kreatur. Sie hatte eine simple radiale Symmetrie ohne Substanz und
Gewebeorganisation. Und sie hatte nicht einmal Blut. Aber die Form
war uralt. Einst war das Meer voller Geschöpfe gewesen, die der
Qualle mehr oder weniger geglichen hatten. Sie hatten sich am
Meeresboden verankert und das Meer in einen Wald brennender Tentakel
verwandelt. Sie mussten auch gar nicht aktiv sein und wurden weder
von Räubern noch von anderen hungrigen Kreaturen bedroht, weil
die Luft nicht genug Sauerstoff enthalten hatte, um derart
gefährliche Ungeheuer mit Energie zu versorgen.
Für Streuner war das Meer etwas Unbegreifliches. Wasser war
für sie etwas, das in Teichen, Flüssen und Pflanzen-Kelchen
vorkam – eine frische, salzfreie Flüssigkeit, die man
trank, wenn das gefahrlos möglich war. Nichts in ihrer Erfahrung
und in der neuronalen Programmierung hatte sie darauf vorbereitet,
über einem weiten umgestülpten Himmel zu hängen, durch
den so bizarre Kreaturen wie die Qualle trieben.
Und sie war durstig, schrecklich durstig. Sie tauchte die Hand in
diese sämige Suppe und führte eine Hand voll Wasser zum
Mund. Sie hatte ganz vergessen, dass sie das vor weniger als einer
Stunde schon einmal getan hatte, und den bitteren Geschmack der
Brühe hatte sie auch schon wieder vergessen.
Sie sah, dass die Männchen ihr Mahl beendet hatten und in der
Hitze in eine Art Starre verfallen waren. Von Fleck war nicht mehr
als ein Fuß mit gekrümmten Zehen zu sehen, der aus dem
Nest ragte.
Vorsichtig ging Streuner zu der Stelle, wo sie das Baby
geschlachtet hatten. Die Äste waren mit Blut verschmiert, das
Anthro-Zungen abgeleckt hatten. Streuner durchsuchte gründlich
das Laub. Vom Kind war nichts mehr übrig außer einem
dünnen Fellfetzen und einer unversehrten kleinen Hand.
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