Ewig Böse
übertrieb seine bösen Taten. Natürlich. Wenn alles stimmen würde, säße er längst im Gefängnis. Er konnte darüber rappen, es mit einer kopflosen Frau zu treiben – während ihr abgetrennter Kopf sich mit der Stimme seiner Mutter von der Kommode am anderen Ende des Raums über ihn lustig machte –, weil das zu unerhört war, um wörtlich genommen zu werden. Und die Kritiker gaben ihm Deckung zuhauf. Weil er schreiben konnte, Poesie auf eine neue Ebene erhob. Auf der Straße kam er gut an, weil er extrem flüssig textete und selbst sein ärgster Kritiker war. Er ging mit Worten um wie Bobby Fisher mit Bauern und Läufern und verschmolz Slang und Gossenjargon mit fünfsilbigen Zungenbrechern, als wäre er ein Kind der Liebe zwischen Michael Chabon und Bushwick Bill. Ein Kerl, der es schaffte, dass Bezüge auf John Wayne Gacy und Auszüge aus Pinskes Übersetzung von Dantes Inferno sich gegenseitig befruchteten, der konnte kein Psychopath sein, oder?
Nein. Jedenfalls nicht zu Anfang.
Später, als seine Frau ihn verließ, als er besessen wurde …
Da war noch etwas in der Truhe, unter Zeitschriften vergraben. Ich legte die CD beiseite. Es war ein schwarzer Ordner, ein Sammelalbum voller Kunststoffhüllen. Ich schlug ihn auf. Massenhaft Zeitungsausschnitte. Die erste Schlagzeile lautete:
SELBSTMÖRDER VON RAPPER BESESSEN
SAGEN ELTERN
Mein Herzschlag setzte aus. Das ist es! Das ist Aaron zugestoßen. Aber nein, der Artikel handelte von einem sechzehnjährigen Jungen namens Brian Jennings aus Dallas. Ich hatte nie von ihm gehört und bezweifelte, dass Ghost etwas davon erfahren hatte. Er konnte schlechte Nachrichten nicht leiden. Brian Jennings war eines Tages zum Mittagessen nach Hause gekommen, hatte sich das Gesicht mit Clownsschminke weiß gefärbt und sich in der Garage erhängt.
Ich blätterte weiter.
LEHRER ATTACKIERT
WEIL ER GHOST KONFISZIERTE
Carl Sanders, 43, aus Newark. Ein Highschool-Sozialkundelehrer, der einem seiner Schüler den iPod weggenommen hatte. Auf dem iPod befanden sich nur Songs eines einzigen Künstlers, Ghost, mit seinem dritten Album, American Bloodland . Der Schüler hatte im Unterricht die Texte mitgesungen und sich auch sonst schon eine ganze Woche lang unmöglich aufgeführt, bevor er zum Berserker wurde. Mr Sanders wurde vor den Augen seiner Klasse brutal verprügelt und zusammengetreten. Er lag drei Tage lang im Koma, und obwohl die Ärzte eine teilweise Genesung erwarteten, würde er aufgrund des erlittenen Gehirntraumas nie wieder unterrichten können.
Auf der folgenden Seite:
SEXTÄTER AUF BEWÄHRUNG
LOCKT SECHSTKLÄSSLER MIT GHOST - TICKETS
Ich überflog den Artikel. Aaron Copeland wurde nicht erwähnt, und der Päderast war geschnappt worden, als er in den Vororten von Indianapolis auf der Pirsch war.
AMOKSCHÜTZE AN DER MADISON - SCHULE
TAGEBUCH ENTHÜLLT RAPPER - BESESSENHEIT
Daran konnte ich mich erinnern. Stacey und ich hatten uns mehrfach darüber gestritten, der Vorfall hatte international Schlagzeilen gemacht und die Kabelkanäle wochenlang zugekleistert. Ein Austauschstudent aus der Volksgruppe der Hmong, mit einer langen Krankengeschichte und mindestens drei geistigen Störungen, hatte in seinem Keller ein Video von sich aufgezeichnet, in dem er mit Tec-9s herumfuchtelte, während im Hintergrund Ghosts Nummer-eins-Hit »Hot Lunch« lief. Zweiunddreißig Minuten später betrat er die Cafeteria seiner Highschool und erschoss elf Schüler und den Wachmann, bevor er eine der Waffen gegen sich selbst richtete. Weder die Medien noch der Junge scherten sich darum, dass Ghosts Song als Grabrede geschrieben war, erzählt aus dem Blickwinkel eines fiktiven Mädchens, das das Columbine-Massaker überlebt hatte. Dessen entsetzliche Bilder hatten, wie Ghost behauptete, mit neunzehn Jahren einen unauslöschlichen Eindruck in ihm hinterlassen und aus zweitausend Kilometer Entfernung Saiten des Mitleids und der Empörung angeschlagen. Es war einer seiner ersten Songs, als er noch nicht einmal einen Plattenvertrag hatte.
2006 sang Ghost bei der Grammy-Verleihung »Hot Lunch« im Duett mit Sting und spendete später eine unbekannte Summe aus den Erlösen der Single für die Vorbeugung von Gewalt an Schulen. Wenn man sich auf den Text einließ, der brutal war, aber von Herzen kam, brodelnd vor Empörung und von Einsichten, die weit über Sentimentalität und Popkultur-Versatzstücke hinausgingen, musste einem klar sein, dass er ein Kunstwerk war, ein genialer und
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