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Ewig sollst du schlafen

Ewig sollst du schlafen

Titel: Ewig sollst du schlafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Jackson
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verstecken, sich verstellen musste, beobachten, warten … und dann rudern und graben … Die Anstrengung hatte gut getan, doch jetzt brauchte er Schlaf. Der Morgen dämmerte schon fast. Ihm blieben nur noch wenige Stunden zum Ausruhen und Kräftesammeln.
    Doch zunächst hatte er noch eine letzte Pflicht zu erfüllen. Geborgen an seinem privaten Rückzugsort setzte er sich an den Tisch, und während der Geruch von feuchter Erde hereindrang, drückte er die Rückspultaste seines Kassettenrekorders, dann die Abspieltaste und hörte sich erneut die ihn verdammenden Worte an.
    »Hm … Schau mal, was wir hier haben …« Die Frauenstimme, die aus dem Mikrofon tönte, gehörte zu einer der Polizistinnen, die am Vorabend Nikki Gillettes Wohnung durchsucht hatten. Er hatte die Streifenwagen und die Ü-Wagen gesehen, hatte sogar einen Blick auf Nikki Gillette erhascht, die sich eng an Detective Reed, diesen Drecksack, drängte. Reed hatte sich als Nikkis Beschützer aufgespielt, seine Hand auf ihrem Arm, als wäre sie sein Besitz.
    »Seht ihr das, hier in dem Ventilator …«, erläuterte die Polizistin. Ihre Stimme klang zufrieden und übertrieben selbstsicher. Der Überlebende hasste sie.
    »Ja, genau hier … Clever, was? … Noch ein Mikrofon. Schnurlos. Offenbar von der gleichen Sorte wie die in den Särgen. Der Mistkerl hört uns wahrscheinlich just in diesem Augenblick zu.«
    Ganz recht, du Miststück. Und weißt du was? Ihr werdet mich niemals finden.
    »Pervers«, sagte die Polizistin. Die Tonlage quälte ihn, zerrte an seinen Nerven. »Pech, die Party ist zu Ende, du elendes Schwein«, sagte die Polizistin direkt an ihn gewandt. »Schluss mit Radio gratis. Geil dich woanders auf.
Sayonara.
«
    Ein Rasseln und Kratzen ertönte, und dann verstummte das Gerät.
    Du elendes Schwein. Fauler Drecksack, zu nichts zu gebrauchen. Wozu taugst du schon? Zu nichts, zu absolut nichts …
Der Überlebende bebte innerlich, wäre am liebsten weggelaufen, um sich zu verstecken. Wie damals, wenn er die Stimme, die ihn jahrelang heimsuchte, in seinem Kopf dröhnen hörte.
    Saudumm, einfach saudumm … Ich zeig’s dir, Junge. Und ich versprech dir, das wirst du so schnell nicht vergessen …
Wut kochte in ihm hoch.
    Er war nicht dumm. Er war klug. Das hatten IQ-Tests bewiesen, und die lügen nicht, oder? Aber vielleicht war er irgendwie verdreht.
    Du hast nicht alle Fassen im Schrank. Bist nichts wert.
    Er sprang hastig vom Tisch auf, sodass sein Stuhl umkippte, und hielt sich die Ohren zu, um den Lärm, die Beschimpfungen und Anschuldigungen nicht mehr hören zu müssen. »Ich bin nicht dumm. Ich bin nicht dumm!«, schrie er, und sein Kinn zitterte.
    Ach, und jetzt fängst du an zu heulen. Wie ein kleines Mädchen. Mach schon, heul doch … zeig mir, was für ein blödes kleines Mädchen du bist.
    »Ich bin kein Mädchen. Ich bin nicht dumm!«, zeterte er, sein Atem ging in hastigen Stößen.
    Er log. Belog sich selbst.
    Er war dumm gewesen. Wie so oft.
    Er schlug sich wieder und wieder mit der Handwurzel gegen die Stirn, daraufhin löste sich sein Haarteil und blieb wie ein kleiner ausgeweideter Hund auf dem Boden liegen. Die Bullen hätten das Mikrofon nicht finden dürfen. Jedenfalls nicht so schnell. Nikki Gillette, diese Fotze mit dem losen Mundwerk, hatte jemanden eingeweiht und versaute ihm alles. Er musste seinen Zeitplan straffen. Die Sache beschleunigen. Das war die Lösung.
    Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Sein Puls normalisierte sich, er hob das Toupet auf und hängte es an einen Haken. Zu den anderen. Er musste Ruhe bewahren, seinen Terminplan überdenken, durfte sich nicht verunsichern lassen. Das nächste Grab war schon vorbereitet … Ein wenig gefasster entfernte er die Kontaktlinsen, die seine klaren blauen Augen tiefbraun färbten. Es war Zeit, seinen Kinnbart zu stutzen und sich Koteletten wachsen zu lassen.
    Er besaß zahlreiche Verkleidungen. Die meisten Leute fielen darauf herein. Offenbar erinnerte sich niemand daran, wie er wirklich aussah, und so sollte es auch sein. Freilich war er damals bedeutend jünger gewesen …
    Er holte sein Album hervor und suchte das Foto von Nikki – auch sie war darauf jünger als jetzt, mit frischem Teint, als Reporterin eine blutige Anfängerin. Ihr rot-goldenes Haar war länger gewesen, ihre Augen strahlten voller Leben.
    Ohne Angst. Eine Tochter, auf die jeder, selbst der Richter, dieses Schwein, stolz sein konnte.
    Aber Väter waren selten stolz auf

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