Ewig
umgedreht und war in Richtung Kaffeehaus verschwunden. Er hatte die Hände tief in seinen Manteltaschen vergraben und den Kopf gesenkt.
Sina sah ihm nach und machte sich bei seinem Anblick Sorgen, ob und wie es nun weitergehen sollte. Paul war immer der Motor gewesen, immer zu einem Scherz aufgelegt, fähig, in der Dunkelheit ein Licht anzuzünden. Jetzt aber hatte er zum ersten Mal erlebt, dass mehr hinter dem Geheimnis steckte als Bilder, Zahlen und fünfhundert Jahre alte Rätsel. Sie waren nicht alleine auf der Spur …
Da drehte sich Wagner um und hob den Arm, winkte Sina zu und rief: »Ich brauche einen Zuckerstoß, sonst werde ich vor lauter Nachdenken noch blöder, als ich sowieso schon bin.«
Drinnen im Café eilten Serviererinnen in weißen Blusen, schwarzen Röcken und mit Spitzenschürzen zwischen den Gästen hin und her. An den Lüstern hingen Espressotassen, die Polsterung war rosa und der Stuck am niedrigen Tonnengewölbe weiß. Es roch nach Kaffee, Kuchen und Zigaretten. An den Wänden animierten erotische Fotografien von halbnackten, zigarrerauchenden Damen Georg Sina zu einer längeren und intensiveren Betrachtung.
»Ich weiß, warum du gerade dieses Café ausgesucht hast«, sagte er.
»Nicht was du denkst, Georg. Der Kaffee ist gut und die Mehlspeisen vielleicht die Besten von ganz Wien«, antwortete Wagner und verrührte zwei Stück Würfelzucker in seinem Espresso. Dann fuhr er fort: »Heute haben wir etwas Wichtiges erfahren, Georg. Zwischen diesen Kirchen gibt es nicht nur ein Drachenviereck, sondern es sind viele unsichtbare Fäden gespannt, wie ein Spinnennetz. Stößt man mit dem Fuß dran, bimmelt irgendwo ein kleines Glöckchen, und am anderen Ende hockt einer in der schwarzen Soutane und beginnt an irgendwelchen Glockenseilen zu zerren. Nur, wen soll das Gebimmel alarmieren? Ja, das ist die Frage … wen?«
Georg Sina beäugte argwöhnisch den Teebeutel zwischen seinen Fingern und die Tasse voll dampfend heißem Wasser vor sich auf dem Kaffeehaustischchen. Eine Kellnerin huschte vorbei und stellte zwei riesige Tortenstücke vor den beiden ab.
»Was ist das?«, fragte Sina und hielt der Serviererin sein Teesäckchen hin.
»Grüner Tee, wie Sie bestellt haben«, antwortete sie mit entwaffnendem, zuvorkommendem Lächeln.
»Die Teekanne macht den Tee …«, kommentierte Sina knapp, aber da war das junge Mädchen schon beim nächsten Tisch und zückte ihren Block, um eine Bestellung aufzunehmen.
Gierig begann Wagner das Torteneck auf seinem Teller mit der Gabel zu zerteilen. Der Reporter schaufelte riesige Bissen Sachertorte mit Schlag in sich hinein. »Ich verstehe das alles nicht … kein bisschen …«, stieß er mit vollem Mund hervor.
»Ich verstehe schon lange gar nichts mehr … Und mit jedem Tag weniger«, grummelte Sina und tunkte mehrmals mit abgespreiztem kleinen Finger seinen Teebeutel ins Wasser. Nicht ohne Bewunderung beobachtete er, wie die getrockneten Pflanzenteile kleine goldene Wirbel ins durchsichtige Nass zeichneten.
»Aber eines beginne ich zu verstehen«, unterbrach er seine Tee-Meditation.
»Was?«, schnaufte Wagner und schluckte geräuschvoll hinunter.
»Der Schottenaltar ist auf 1469 datiert. Diese Jahreszahl steht zumindest auf dem Stadttor, durch das Jesus am Palmsonntag nach Jerusalem einzieht.«
»Und?«
»Zufällig ist das genau jenes Jahr, in dem Matthias Corvinus Gegenkönig von Böhmen wird und Kaiser Friedrich seinen Titel streitig macht.«
»Und die Zahlenwerte der Inschrift in der Ruprechtskirche ergeben sein Todesjahr.«
»Genau. Also haben alle von Friedrichs Hinweisen direkt oder indirekt auch mit Corvinus zu tun. Sie markieren wichtige Punkte auf ihrem gemeinsamen Lebensweg. Und wenn du genau hingeschaut hast, dann ist Krems die Stadt, die naturgetreu auf der Tafel neben der Datierung dargestellt ist. Von dort, eigentlich aus Stein an der Donau gleich daneben, stammt die Mutter von König Matthias’ einzigem Sohn. Nur war der nicht erbberechtigt, zumindest was die Krone anbelangt.« Sina zog das Säckchen aus dem Tee und roch misstrauisch am Inhalt der Tasse. »Noch eine Parallele: In Stein war im Mittelalter der Lager- und Umschlagplatz für Salz, genau wie bei der Ruprechtskirche in Wien. Seltsam, nicht?«
»Tut mir leid, ich habe die Pointe verpasst. Du hast mich auf deinem Weg irgendwo verloren.«
»Schau, Paul, das ist doch nicht so schwer. Was wäre, wenn Corvinus der ersehnte König ist, der in seine Hauptstadt Wien einzieht.
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