Ewig
Sein Erfolg ist aber auf Sand gebaut. Er zieht zwar hier ein, besiegt damit Friedrich, aber was hat er davon? Er hinterlässt keine legitimen Erben. Kaiser Friedrich überlebt ihn, den großen Corvinus. Der Gegenkönig ist tot, es lebe der König!« Sina sah Wagner Beifall heischend an, aber als der Applaus ausblieb, fuhr er fort: »Ach, vergiss es! Da muss ich noch genauer drüber nachdenken.« Er murmelte etwas in seinen Tee. Dann blickte er auf.
»Faktum ist, dass auf dem ganzen Alter Pflanzen dargestellt sind, die nicht nur im Marienkult, sondern auch in der Phytotherapie eine Rolle spielen.«
»Wo spielen die eine Rolle? In welcher Therapie? Kannst du nicht verständlich sagen, was du meinst«, ärgerte sich Wagner.
»In der Pflanzenheilkunde«, erklärte Sina geduldig. »Die Weidenkätzchen aus der Palmsonntagszene zum Beispiel: Die Weide liefert Salicin, das bei Einnahme im Körper in Salicylsäure umgewandelt wird. Diese weist ähnliche Eigenschaften wie Acetylsalicylsäure, kurz Aspirin, auf.«
»Seit wann interessierst du dich für so was?«, wunderte sich Wagner. Dann dachte er kurz nach und meinte: »Was ist mit den anderen Blumen in den Bildern des Altars?« Sein Interesse war geweckt.
»Ich habe einiges über Tees und Kräutersalben aufgeschnappt, als ich in meiner Kindheit zu Besuch bei meiner Großmutter war«, erzählte Sina und beugte sich zu dem Reporter. »Im Wiesenstück auf der Tafel der Kreuztragung Christi finden wir Spargel, Traubenhyazinthe und Brombeere. Spargel kennst du, was man sich von ihm erzählt auch. Die Traubenhyazinthe in einem Bild von 1469 ist allerdings auffällig. Gartenhistorisch fällt ihre Einführung nämlich in die sogenannte ›orientalische Phase‹ der Zierpflanzen, zwischen 1560 und 1620, also wesentlich später als unser Altar. Damals wurde eine Vielzahl von Hyazinthen, Tulpen und Narzissen vornehmlich aus der Türkei nach Mitteleuropa eingeführt. Die Hyazinthenzwiebel ist gering giftig und enthält Oxalsäure.«
Wagner wollte Sina unterbrechen, aber ein Blick des Wissenschaftlers ließ ihn verstummen.
»Brombeere ist wiederum nicht nur schmackhaft, sondern fördert die Blutbildung«, fuhr Sina fort. »Kommen wir zur Beschneidungsszene. Da sind Rosen, Nelken und eine blaue Blume auf den Boden gestreut. Rote Rosen gelten seit dem Altertum als Symbol von Liebe, Freude und Jugendfrische. Mit der Rose war auch die Vorstellung des Schmerzes verbunden …«
»… keine Rose ohne Dornen …«, ergänzte Wagner.
»… und wegen ihrer hinfälligen Kronblätter auch mit Vergänglichkeit und Tod«, fuhr Sina fort. »Ein Rosenstrauch taucht ganz zentral auf dem Altar auf, nämlich bei der Flucht nach Ägypten, wo sich auch die Darstellung Wiens im Hintergrund befindet, die uns den Weg in Richtung Süden weist.«
»Der wohl wichtigste Hinweis in dem Altar des Schottenmeisters«, nickte Wagner und bestellte sich noch einen Melange mit einer Sachertorte. Wie er seinen Freund kannte, würde das länger dauern. »Und die Nelke?«, fragte er dann.
»Der Ruf der Gewürznelken, eine aphrodisierende Wirkung zu haben, übertrug sich im Mittelalter auch auf die Nelken. Von da an galten sie als Symbol für Verlobung, Liebe und Ehe. Die blaue Blüte wiederum könnte eine Kornblume sein, die kommt oft bei Mariendarstellungen vor. Die Pflanze nimmt man als Entzündungshemmer oder in Kosmetika.«
»Auf diesem Altar sind ja mehr Pflanzen als Heilige«, lästerte Wagner und schaute sehnsüchtig auf eine der Fotografien, die rote Lippen um eine dicke Zigarre zeigten. Sina war noch immer bei seinen Aufzeichnungen aus dem Museum.
»Bei der Kreuzabnahme wiederum habe ich ›Glockenblume, Löwenzahn und Hahnenfuß‹ notiert. Bei der ›Glockenblume‹ könnte es sich meiner Meinung nach um einen stark stilisierten ›Wolligen Fingerhut‹ handeln. Der ist hochgiftig, wird aber zur Herstellung von Arzneien gegen Herzinsuffizienz verwendet. Löwenzahn dient zur Zellstoffwechselaktivierung. Hahnenfuß ist ebenfalls, aber nur geringfügig giftig.«
»Genug!«, unterbrach Wagner Sinas Redefluss. »Ich komme mir vor wie beim Kräuterdoktor. Worauf willst du hinaus? Dass Friedrich uns das Rezept zu einem Powerdrink hinterlassen hat? Ist das sein Geheimnis?«
»Warum nicht ein Teil davon?«, schnappte Sina zurück.
»Also wenn du meinst, dass ich mit dir jetzt durch die Wälder krieche, dort Blumen pflücke und mit dir einen Tee brühe, der mich schnurstracks per Digitalis über den Jordan
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