Ewige Nacht
Menschen atmeten. Und das war in Ralfs Augen die eigentliche revolutionäre Vorstellung. Einem alten Spruch zufolge atmeten wir alle irgendwann im Leben ein Sauerstoffmolekül ein, das auch schon durch Napoleons Lunge gewandert war. Die Atmosphäre der Erde war extrem dünn, nicht dicker als die doppelte Lackschicht eines von innen beleuchteten Globus auf dem Schreibtisch.
Das Gelingen von Grib war Ilgar zufolge von der Sprenganordnung abhängig. Das pathogene Material musste weit genug vom Sprengkern entfernt sein, allerdings nicht zu weit, damit es in die Atmosphäre geschleudert werden konnte. Möglichst viel von der Viren-und Bakterienfracht musste durch das Aerosol verteilt werden, indem die Bewegungsenergie maximiert und die Auswirkungen von Hitze und Strahlung minimiert wurden.
Ralf hatte Ilgar gegenüber die Vision ausgesponnen, wie das schreckliche Potenzial der Grib-Resultate positiv genutzt werden konnte: für die Aerosolvakzination. Es sei nur eine Frage der Zeit, wann wegen weltweiter Epidemien Millionenstädte, ja ganze Länder oder Landesteile massengeimpft werden müssten.
Grib war zunächst eine völlig ungelenkte Waffe gewesen, und die Entwicklungsarbeit war parallel zu der ethnospezifischen Virusforschung in Koltsowo gelaufen: Dort ging es um eine Krankheit, die nur eine bestimmte Menschenrasse infizierte. Ilgars Gruppe hatte ein Ebola-Virus entwickelt, mit dem sich nur Chinesen anstecken konnten.
Über die Details des Ethno-Virus hatte sich Ilgar lange ausgeschwiegen. Offenbar wollte er weder über die Entstehung des Virus sprechen noch über die Gründe seines Ausstiegs aus dem russischen Biowaffenprogramm.
Erst als Ralf ihm sagte, er benötige für seine Arbeit bei CON-RAD ein Virus, das sich schnell genug vermehrte, hatte Ilgar sein Schweigen gebrochen. Womöglich witterte er die Gelegenheit, etwas aus seiner Vergangenheit wieder gutzumachen, sein Wissen vielleicht doch noch für einen guten Zweck einsetzen zu können.
Ralf erinnerte sich lebhaft an jene Nacht in dem Hotelzimmer im Londoner Stadtteil Bloomsbury: Ilgar hatte ihm einen kleinen Stahlzylinder ausgehändigt, den er bei seiner Flucht aus der Sowjetunion mitgenommen hatte und seither in einem Bankschließfach aufbewahrte.
»Diese Variante A hat mich all diese Jahre belastet«, hatte Ilgar zu ihm gesagt.
»Ebola Variante E266A+«, las Ralf. Das war der Name des Virenstamms. »A wie Azneft?«
Ilgar nickte. »Aber nicht wie Ilgar Azneft.«
Erst da hatte Ilgar ihm die ganze Geschichte erzählt. Ralf war zutiefst erschüttert gewesen.
Der gut zehn Zentimeter lange, kalte Gegenstand mit einem Durchmesser von zwei Zentimetern hatte so schwer gewogen, als wäre er aus Volleisen gewesen. Das entsprach auch fast den Tatsachen, wie sich einen Monat später im Labor von CONRAD herausgestellt hatte, als Ralf den Zylinder geöffnet hatte. Er hatte lediglich eine winzige Ausbuchtung enthalten, in die eine luftdicht verschlossene, mit einem Schraubenzieher herausdrehbare Stahlkapsel eingelassen war.
Jene Ampulle mit dem veränderten Ebola-Stamm war der wichtigste Nachweis für Ilgars wissenschaftliche Laufbahn und zugleich das Grauen erregende Zeugnis seiner persönlichen Tragödie. Nie zuvor in seiner Karriere war Ralf so aufgeregt und vorsichtig gewesen wie beim Öffnen der Ampulle mit dem lyophilisierten Viruspulver im Hochsicherheitslabor von CONRAD, wo die Präparate im luftdichten Raum behandelt wurden, indem man die Hände in fest an der Schutzhülle installierte Handschuhe schob.
Die damalige Aufregung war allerdings kein Vergleich zu dem, was er jetzt empfand, da er die Kiste vor sich sah, die quer durch Europa und Afrika transportiert worden war. Sie war fast am Ziel. Bald würde sie ihre Aufgabe erfüllen.
Aber würde es auch funktionieren? Wie zuverlässig war eine russische Kernladung? Darüber hatten sie sich oft Gedanken gemacht. Andererseits: Wenn man in der Sowjetunion etwas beherrscht hatte, dann die Kerntechnologie.
Noora kam zwischen den dichten Mangobäumen hervor. Sie trug abgeschnittene Jeans und Adidas-Turnschuhe. In der warmen, windstillen Dunkelheit roch es leicht nach Rauch.
»Hol die Funkgeräte!«
Noora sah kurz auf die Kiste und ging, ohne ein Wort zu sagen, wieder davon.
»Wann erzählst du es ihr?«, fragte Ilgar leise.
»Im letzten Augenblick. Es wird ihr nicht gefallen.«
Noora wusste von der Kernladung, aber sie kannte nicht den wahren Grund für deren Zündung.
Man hatte ihr erzählt, beim
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