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Ewige Nacht

Ewige Nacht

Titel: Ewige Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
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Zeitungsberichte dokumentierten in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts die brutale Herrschaft des belgischen Königs.
    Das hartnäckige Bemühen der ersten Menschenrechtsaktivisten führte dazu, dass man in Europa allmählich verstand, was im Kongo vor sich ging. Die »humanitäre Arbeit«, die Leopold II. angekündigt hatte, fand ganz und gar nicht statt, er sorgte auch keineswegs für die Ausbreitung der Zivilisation – stattdessen gingen der systematische Völkermord und die Plünderung der Bodenschätze allein auf sein Konto.
    Wenn sich aber einer der größten und gewalttätigsten Raubzüge der Geschichte nicht im Geheimen vollzog, wenn sogar die Presse detailliert schilderte, was im Kongo passierte, warum war man dann nicht eingeschritten? Waren den Belgiern die von ihren Landsleuten verübten Grausamkeiten gleichgültig, weil die Opfer Schwarze waren?
    Der Gedanke war zynisch, aber warum wurde in belgischen Schulen noch immer nicht ehrlich über die Kolonialzeit gesprochen? Weil der selektive Erinnerungsverlust manchmal das einzige Mittel ist, als Einzelner wie als Volk über die Runden zu kommen? Oder weil noch Anfang der 6oer Jahre, ein knappes Jahr vor der Selbstständigkeit des Kongo, Belgier ihre kongolesischen Arbeiter mit der Chicotte bestraften, wenn die vom belgischen Staat festgesetzten Baumwollquoten nicht erreicht wurden?
    Timo hatte ein Bild vor Augen, das er in Adam Hochschilds ›Schatten über dem Kongo‹ gesehen hatte: Ein kongolesischer Vater blickte nachdenklich und bekümmert auf die Hand, die man seiner fünfjährigen Tochter abgeschnitten hatte. In der vollkommen resignierten, duldsamen Gestalt des Mannes, in seinem Gesicht voller Niedergeschlagenheit und Irritation verdichtete sich das ganze Unrecht, das seinem Volk angetan worden war.
    Noch kurz bevor Timo endlich einschlief, drängten sich ihm alptraumhafte Bilder aus dem Kongo in den Sinn: eine zwei Meter lange Boa, die ein Pockenopfer verspeiste, Aasvögel, die sich so fett gefressen hatten, dass sie zu schwer zum Fliegen waren.
     
    Aus der Tiefe des dunklen Waldes hallten die Stimmen des nächtlichen Dschungels. Hinter den Bäumen blitzte im Mondschein die massive, abgeflachte Gestalt des Mount Mwanga hervor.
    Ilgar Azneft blickte in Richtung der Straße, aus der sich das Geräusch eines Autos näherte. Er griff zu seiner Maschinenpistole, trat näher an die Kiste heran und behielt aus dem Dunkel hinter den Bäumen die Scheinwerfer im Auge, bis der Landrover am Rand der Lichtung zum Stehen kam.
    Noora stieg aus und schlug die Tür zu. Nzanga verließ seinen Platz hinter dem Steuer, nahm seine Maschinenpistole aus dem Wagen und lehnte sie gegen das Vorderrad.
    »Wo ist Ralf?«, fragte Noora.
    »Holt den Hubschrauber«, antwortete Ilgar und zündete sich eine Zigarette an. Der Fahrer begann unter Ilgars Beobachtung, Tragegurte aus dem Kofferraum zu laden.
    Ilgar war überaus misstrauisch. Nicht nur in Russland, auch hier in Afrika gehörte er zu einer Minderheit, die man argwöhnisch beobachtete, und so war auch Ilgar umgekehrt stets auf der Hut. Er hatte gelernt, seinen Hass zu verbergen, aber all das Leid und die Demütigungen, die seinem Volk von den Eroberern aus Moskau aufgezwungen worden waren, all der Schmerz, den Tanjas Schicksal verursacht hatte, war unwiderruflich in ihm zu Stein geworden.
    »Wofür werden die großen Plastiktanks gebraucht?«
    Ilgar zog an seiner Zigarette. Der Rauch stieg in der windstillen Luft auf und tanzte im Scheinwerferlicht. Er mochte Noora. Vom Aussehen her erinnerte sie ihn an Tanja: der Pferdeschwanz, der drahtige Körper, die ruhigen Augen. Ilgar spürte die beruhigende Wirkung des Nikotins.
    Seine Gedanken schweiften zurück zu Tanja. Er hatte sich in die Biochemikerin von der Universität Leningrad buchstäblich auf den ersten Blick verliebt, an ihrem ersten Arbeitstag in Koltsowo. Ein halbes Jahr später hatten sie geheiratet, gleich nachdem Ilgar mit seinen Kollegen von der Afrika-Reise zurückgekehrt war, während der er Ralf kennen gelernt hatte.
    »Hast du gehört?«, fragte Noora freundlich, aber bestimmt.
    »Frag nicht.«
    Noora lachte gezwungen. »Natürlich frage ich. So lange, bis ich Antworten bekomme.«
    Ilgar lächelte. »Du bist hartnäckig. Wie meine Frau.«
    »Tanja?«
    Ilgar nickte.
    »Du redest nicht über sie«, sagte Noora vorsichtig.
    »Tanjas Leben endete … in einer Tragödie.«
    »Das habe ich aus der Art geschlossen, mit der du ihr Bild in Kapula angeschaut

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