Ewige Nacht
junger Wissenschaftler, zu allem fähig zu sein. Aber aus deiner damaligen Einstellung ließ sich nicht vermuten, dass du ausgerechnet in Amerika landest.«
»Das sagt der Richtige«, lachte Ralf. »Vom anständigen Kommunisten zum Mitbesitzer einer Biotechnikfirma.«
Ilgar wurde ernst. »Ich war kein Kommunist«, sagte er mit eisiger Stimme. »Die Kommunisten haben mein Volk vernichtet.«
»Entschuldige. Ich weiß nichts über die Tataren.«
»Stalin hat uns 1944 von der Krim nach Zentralasien vertrieben. Fast die Hälfte der mehr als 200000 Vertriebenen verlor während des Transports oder am Ziel das Leben. Die Kommunisten gaben Russen und Ukrainern unser Land. Als Stalin starb, ließ man die Tschetschenen und Inguscheten aus Kasachstan zurückkehren, nur uns nicht.«
»Ich verstehe deine Verbitterung.«
»Das kann niemand verstehen.«
Ilgar zündete sich eine Zigarette an. Dann kamen sie auf die Aerosoltechnik zurück.
»Im Prinzip ist es möglich, die ganze Erdbevölkerung auf einmal zu impfen. Die gesamte Population.«
Der Satz traf Ralf wie ein Speer. »Die gesamte Population? Was meinst du damit?«
»Nichts. Vergiss es.«
»Das ist wichtig! Denk nur an Aids oder Tbc! Oder an eine mögliche Pockenepidemie. Oder die Vogelgrippe. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis eine weltumfassende Epidemie ausbricht. Weißt du, was das Impfen für Zeit, Geld und Ressourcen in Anspruch nimmt? Besonders in Afrika, Asien oder Südamerika.«
»Ich kenne die Probleme der Dritten Welt«, sagte Ilgar. »Ich habe die letzten sechs Jahre dagegen gekämpft. Zuletzt hatte Neozyme ein Malariaprojekt in Äthiopien.«
»Ich habe davon gehört. Wenn du Informationen hast, die man bei der Entwicklung der Aerosolvakzination nutzen könnte, warum gibst du sie dann nicht weiter?«
» Ich kann und will nicht über Dinge reden, die mit der Arbeit in meinem früheren Leben zu tun haben. Ich versuche, alles zu vergessen.«
»Was ist wichtiger: deine persönlichen Gefühle oder das Wohlergehen ganzer Völker in der Dritten Welt?«
»Du weißt nicht, worüber du sprichst.« Ilgar stand auf und ging davon, ohne sich umzublicken.
Ralf war verdutzt sitzen geblieben. Erst später hatte er Ilgars Verhalten verstanden. Der Grund war das Schicksal seiner Frau Tanja.
Ralf fuhr aus der Erinnerung auf und sammelte die Bretter der äußeren Kiste ein, trug sie in den Wald und kehrte zu der inneren Kiste zurück. Er fasste sie an zwei Ecken an und verrückte sie.
»Ist ein bisschen leichter geworden.«
Ilgar steckte sich nervös eine Zigarette an. Beim Ziehen sog er die Wangen ein und kniff die Augen zusammen. »Wo bleibt der Hubschrauber?«
»Er kommt, sobald er kann.«
Ralf sah Ilgar besorgt an. Der nahm alles noch viel schwerer als er selbst. Nach dem Kongress in Paris hatten sie sich angefreundet. Als Ralf dann die Idee für die Operation gekommen war, hatte er zielstrebig versucht, Ilgar zu erweichen. Das war nicht schwer gewesen, denn Ilgars Ansichten über den Zustand des Planeten waren nicht weit weg von seinen eigenen. Ilgar war besonnener, aber sie hatten eine gemeinsame Richtung.
Ralf hatte gesagt, er brauche Informationen über die Herstellung von Bioaerosolen für Untersuchungen zu neuen Formen von Massenimpfungen. Ilgar war ihm behilflich gewesen, und Ralfs Plan hatte Gestalt angenommen. In der Sowjetunion hatte Ilgar bei einem Projekt zur Entwicklung einer strategischen Biowaffe namens Grib – › Pilz‹ – mitgearbeitet. Damit war nach dem Unglück in der Biowaffenfabrik Swerdlowsk im Jahr 1979 begonnen worden. Man hatte damals nämlich festgestellt, wie effektiv ein Krankheitserreger in Aerosolform, der in der Luft verteilt wird, Menschen infizieren konnte: Hundert Einwohner der Stadt starben, und mehrere Hundert erkrankten durch Milzbranderreger, die mit dem Luftstrom weit von der Produktionsstätte fortgetragen worden waren.
Bei einer normalen biologischen Waffe wurde das Aerosol, das den Krankheitserreger enthielt, durch Explosion freigesetzt. Die Viren-oder Bakterienfracht befand sich im Projektil, und die Mikroben wurden im Umkreis von einigen Kilometern oder, je nach Luftströmung, zehn oder hundert Kilometer weit verteilt. Je stärker der Sprengstoff, den man benutzte, umso größer das Gebiet, in dem sich das Bioaerosol mit den Mikroben ausbreitete.
Benutzte man eine Kernladung, verbreitete sich das Aerosol in der Atmosphäre. Anders als bei radioaktivem Niederschlag blieben die Mikroben in der Luft, die alle
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