Ewige Nacht
Unsicherheit.
Er stellte eine Schale mit grünem Salat auf sein Tablett und wählte als Hauptgericht den Hähnchentopf, der schien ihm noch am leichtesten zu sein. Wenn bloß keine Sahne an der Soße war. Er beugte sich nach vorn, um den Teller in Augenschein zu nehmen.
»Tenez«, sagte die geschminkte junge Frau an der Theke und zwinkerte ihm zu. »Ist mit guter Sahne.«
»Sie schwindeln«, knurrte Timo dem Mädchen zu und nahm eine Flasche Evian aus der Vitrine.
An den nur halb besetzten Tischen unterhielten sich hauptsächlich Nordeuropäer – den Italienern, Franzosen, Spaniern und Portugiesen war das Kantinenessen nicht gut genug, sie gingen zu einem ordentlichen Lunch in die umliegenden Restaurants. Katholiken konnten mit protestantischer Askese einfach nichts anfangen. Lieber nahmen sie in Kauf, dass sich ihr Arbeitstag zum Abend hin in die Länge zog. Das wiederum mochte Timo nicht.
Er trug sein Tablett an einen freien Tisch. Er wollte jetzt mit niemandem reden. Überhaupt war er nicht sonderlich gesellig. Mit zunehmendem Alter fiel es ihm immer schwerer, neue Leute kennen zu lernen, und bei Einladungen suchte er meist die Gesellschaft der Person, die ihm am wenigsten fremd war. Allerdings pulsierte hinter den nordischen Genen des Vaters das muntere karelische Erbe der Mutter. Das kam immer dann zum Vorschein, wenn er mit Flohmarkt-oder Antiquitätenhändlern zu tun hatte.
Timo schaufelte sich das Essen in den Mund. In dem Hähnchentopf war Sahne. Überraschend setzte sich Heidi Klötz an seinen Tisch. Die gertenschlanke Beamtin des Bundesamtes für Verfassungsschutz war im Frühling aus Köln gekommen. Diese extrem pragmatische, unverheiratete 36-Jährige mit dem schwarzen Retro-Brillengestell hatte eine Vorliebe für minimalen Smalltalk. Dass die gefriergetrocknete Deutsche jetzt an seinem Tisch auftauchte, weckte Timos Neugier.
»Wie geht’s?«, fragte sie, wobei sie den voll geladenen Teller mit einem fettigen Fleischgericht vom Tablett auf den Tisch stellte. »Erziehungsprobleme?«
Oh, Scheiße, weiß das jetzt schon das ganze Haus? , dachte Timo, lächelte aber freundlich. »Dir sind solche Probleme ja fremd.«
»Gott sei Dank.«
Das hat wohl nicht nur mit Gott zu tun, dachte Timo, hielt aber seine Zunge im Zaum und schob sich eine Gabel voll Salat in den Mund.
Heidi Klötz konzentrierte sich auf ihr Spanferkel, so dass sich Stille über den Tisch legte.
»Ich habe gerade aus Köln gehört, dass hinter dem Bremer Überfall eine ökomilitante Gruppe von Globalisierungsgegnern namens G1 steckt«, sagte Heidi Klötz nach einer Weile.
Bei G1 fiel Timo eine ganz andere Gruppierung ein: Während des Krieges hatten einige Technikstudenten aus der belgischen Widerstandsbewegung die so genannte G-Gruppe gebildet, die Sabotageakte in Einrichtungen der Nazi-Rüstungsindustrie vornahm.
»Die Analytiker aus der Abteilung für radikale Organisationen sagen, die G1 beschaffe sich Geld für irgendeine größere Aktion. Außerdem stehe sie in Verbindung mit Veteranen der RAF.«
Timo sagte noch immer nichts, sondern wartete erst mal ab, was die Deutsche von ihm wollte. Der Link zwischen den radikalen Aktivisten und der Roten Armee Fraktion erschien ihm an sich logisch, schließlich hatte auch die RAF in den 70er Jahren für die Dritte Welt gekämpft und dabei Banken und Kaufhäuser überfallen und Banker und Wirtschaftsbosse umgebracht. Das heterogene Spektrum der Globalisierungsgegner erstreckte sich von Öko-Freaks über Eine-Welt-Aktivisten bis hin zu Tierschützern. Und aus dem Blickwinkel der Nachrichtendienste war jeder frustrierte Atomkraftgegner oder Pelzmantelbesprüher ein potenzieller Terrorist. Nach dem Motto: Einige Demonstranten begreifen die Hoffnungslosigkeit ihres Widerstandes und fangen an, sich terroristischer Methoden zu bedienen. Timo war hin-und hergerissen: Er konnte den Zorn besonders junger Menschen auf diese Global Player ja gut verstehen. Andererseits heiligte schließlich nicht jeder Zweck die Mittel. Und unter diesen selbst ernannten »Globalisierungsgegnern« gab es offenbar tatsächlich einige Gruppierungen, die man im Auge behalten sollte. Das Ärgerliche an ihnen war, dass von denen leider nur allzu gern auf andere Gruppen geschlossen wurde, die durchaus für nachvollziehbare Ziele eintraten.
»Es interessiert dich vielleicht, dass die G1 Kontakte nach Finnland hat.«
Timo blickte von seiner Salatschüssel auf.
»Bei einer Hausdurchsuchung des BfV sind gefälschte
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