Ewige Nacht
Papiere und Tickets gefunden worden. Mindestens ein Mitglied aus dem harten Kern der G1 ist letzte Woche nach Helsinki geflogen. Ralf Denk. Er hat falsche Papiere benutzt, von denen zu dem Zeitpunkt noch niemand wusste.«
Timo schluckte den letzten Bissen hinunter, bevor er sprach. »Warum nach Finnland?«
»Genauere Informationen gibt es nicht. Der BfV hat die Finnen schon informiert und einen Haftbefehl gegen Denk erlassen. Wann geht’s zurück nach Helsinki?«
»Morgen Abend. Nächste Woche kommen mein Sohn und ich mit dem Wagen zurück.«
»Könntest du schon eher fahren? Morgen früh vielleicht? Und dir mit deinen ehemaligen Kollegen die Finnland-Connection der G1 mal näher anschauen?«
»Ist das so wichtig?«
Heidi Klötz schob ihre Brille hoch und senkte die Stimme. »Diese G1 ist keine Bürgerinitiative. Die organisieren Raubüberfälle und sind sogar bereit, zu töten. Die Mutter von Ralf Denk war Renata Kohler.«
Timo brauchte einen Moment, bis er den Namen zuordnen konnte. Dann fiel es ihm wieder ein: Renata Kohler hatte Anfang der 70er Jahre der RAF angehört und war zum näheren Umkreis von Ulrike Meinhof und Andreas Baader gezählt worden.
»Falls die G1 Kontakt zur RAF hat, ist bald der Teufel los«, fuhr Heidi Klötz fort.
Timo wusste, was sie meinte. Die Italien-Abteilung war bereits in Alarmbereitschaft, seit die wiedergeborenen Roten Brigaden, eine linksradikale Terrororganisation, im März 2002 in Bologna Marco Biagi, den Berater des italienischen Arbeitsministers, erschossen hatten. Die Mordwaffe war dieselbe gewesen, die drei Jahre zuvor beim Mord an Biagis Vorgänger Massimo D’Antona benutzt worden war. In der Nähe des Tatorts hatte die Polizei einen mit Sprühfarbe auf den Bürgersteig gemalten roten Stern gefunden.
Bei einer Routinekontrolle im Zug von Rom nach Florenz hatten die Mörder einen Polizisten erschossen, daher nahm man an, dass sie einen größeren Schlag geplant hatten. Dieser Fall hatte auch Finnland gestreift, denn die Terroristen hatten mit einem italienischen Linksaktivisten verkehrt, der in Helsinki lebte. Timo hatte damals die Ermittlungen zwischen Finnischer Sicherheitspolizei, Zentralkriminalpolizei und den italienischen Behörden koordiniert.
Das Wiedererstarken der Roten Brigaden war keine Bagatelle. In den ersten zehn Jahren ihres Bestehens hatten die Terroristen 14000 Anschläge durchgeführt und damit das italienische Rechtssystem in den 70er Jahren an den Rand der Lähmung gebracht. Dann fanden die Richter eine effizientere Vorgehensweise, und 1982 hatten 1400 Linksterroristen in italienischen Gefängnissen gesessen.
Wenn die Roten Brigaden in Italien wieder aktiv wurden, warum sollte dann das Gleiche nicht auch mit der RAF in Deutschland passieren? Offiziell hatte die sich zwar aufgelöst – aber wer wusste schon, ob das nicht vielleicht nur ein öffentlichkeitswirksames Ablenkungsmanöver gewesen war?
»Ich glaube, ich habe für morgen keine Termine vereinbart«, sagte Timo und bemühte sich, möglichst neutral zu klingen. In Wahrheit interessierte ihn das Ganze plötzlich sehr. Was hatten deutsche Extremisten in Finnland verloren?
»Aber diese Sorte von Vollstreckern gibt es in Finnland nicht«, fuhr er fort. »Und wenn, dann erfahren wir das sofort. Die SiPo hat schon vor Jahren in alle nennenswerten Gruppierungen ihre Leute eingeschleust. Finnland ist ein kleines Land. Und die betreffenden Kreise dort sind noch kleiner.«
»Setz dich mit deinen Kollegen in Helsinki in Verbindung. Der Fall ist als ›orange‹ eingestuft.«
Im Slang von TERA bedeutete ›orange‹ die zweithöchste Priorität nach ›rot‹. Wenn radikale Gruppen der Globalisierungsgegner der neuen Generation Bündnisse eingingen mit alten Euroterroristen, die ihnen ideologisch nahe standen, waren ernsthafte Probleme zu erwarten.
Nach dem Mittagessen rief Timo bei Finnair an. Er wollte die Gelegenheit nutzen und Soile und Aaro überraschen. Warum erst am nächsten Morgen fliegen, wenn er ebenso gut gleich zum Flughafen fahren konnte?
Anschließend nahm er eine geschützte E-Mail-Verbindung zu einem alten Bekannten auf: Oberinspektor der operativen Linie bei der Sicherheitspolizei, zu dessen Aufgaben es gehörte, Extremisten in Finnland zu beobachten.
4
Die junge Frau hielt das Lenkrad fest umklammert. Unter der Bräune waren Aknenarben zu erkennen, aber ihre schönen, tiefblauen Augen zogen alle Aufmerksamkeit auf sich. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem straffen
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