Ewige Nacht
Leinwand blinkten Zahlen und Kratzer auf.
»Wie alle Impfungen, so funktioniert auch der immunologische Verhütungsmechanismus, indem er im Organismus eine völlig natürliche Reaktion auslöst. Die Randzellen des Embryos sondern Protein spaltende Enzyme und das Hormon Choriongonadotropin ab, die für die Verbindung mit der Gebärmutterschleimhaut sorgen. Ein spezifisches Antigen unterdrückt die Wirkung dieses Hormons, wodurch die Einnistung des Embryos in der Gebärmutter verhindert wird.«
»Funktioniert das in der Praxis?«
»Es wurde drei Jahre lang bei einem Feldversuch in Neu Delhi getestet und erwies sich als die effektivste Massenverhütungsmethode, die jemals in die Testphase gelangt ist. Außerdem ist sie billig.«
»Warum wird sie dann nicht eingesetzt?«
Rauber schnäuzte sich erneut. Die Leinwand erstrahlte in blendendem Weiß, und aus dem Projektionsraum hörte man ein scharfes Klicken. Der Film war gerissen.
»Entschuldigung. Samantha wird das schnell reparieren. Die Archivkopien werden normalerweise nicht angeschaut, sie sind nicht für die Projektion gedacht …«
»Wir haben nicht viel Zeit, Doktor Rauber. Fahren Sie bitte fort.«
Rauber nahm das Blatt Papier, das er auf einen der leeren Sitze gelegt hatte, und faltete es. »Wie Sie sehen, verdoppelt sich die Dicke des Papiers, wenn ich es falte.«
Er faltete das Blatt erneut und dann noch einmal und drehte es in den Händen. »Jetzt ist es die vierfache Stärke. Wenige Millimeter dick. Wenn ich es noch fünfzigmal falten könnte, wie dick wäre es dann?«
Der verdutzte Shapiro konnte seine Ungeduld nur schwer verbergen.
»Wenige Zentimeter?«, fragte Rauber. »Einen Meter? Vergessen Sie nicht, es handelt sich um eine Exponentialfunktion. Ein fünfzigfach gefaltetes Blatt Papier reicht über die Atmosphäre, über den Mond und die Umlaufbahn des Mars hinaus.«
»Ich weiß nicht, ob wir die Zeit haben …«
»Auch die Erdbevölkerung wächst exponentiell. Vor hundert Jahren gab es weniger als zwei Milliarden Menschen. Vor dreißig Jahren drei Milliarden. Jetzt sind es sechseinhalb Milliarden. Wie soll man mit dieser Tatsache umgehen? Ralf Denk war pessimistisch, ebenso wie viele andere Wissenschaftler, die wir Populationspessimisten nennen. Ralf Denk sieht durch das Bevölkerungswachstum den Planeten bedroht. Unter einigen seiner Geistesverwandten hat er den Gedanken durchgesetzt, man müsse zu radikalen Methoden der Bevölkerungskontrolle greifen, für den Fall, dass sich die Lage weiter zuspitzt.«
»Radikale Methoden?«
Rauber nickte. »Ralf war ein Visionär, wenn man so sagen darf. Einer seiner aggressivsten Pläne bestand darin, in der Phase, in der die Situation außer Kontrolle zu geraten droht, in den trostlosesten Gegenden der Dritten Welt eine Verhütungsimpfung mittels eines Virus, das die Zielgruppe ansteckt, vorzunehmen. Eine Art Massenverhütungsimpfung, die – anders als die immunologische – über ein Virus funktioniert.«
»Das klingt ja menschenverachtend!«
»Ja. Gegen die unkontrollierte Verbreitung bestimmter Tierbestände ist das Verfahren bereits erfolgreich eingesetzt worden. Ein ansteckendes Virus, das Infertilität bewirkt, wird mit einem Spermizid kombiniert: Sobald es mit dem Impfstoff gefüttert worden ist, fängt das Tier an, das Unfruchtbarkeitsvirus zu verbreiten. In Indien ist das Verfahren angewandt worden, um die Rattenpopulationen zu reduzieren, in Berlin ist man damit gegen Tauben vorgegangen. Auch die Tollwutimpfung ist schon an ein Virus gekoppelt worden. Das rein medizinische Problem beim Menschen hat immer darin bestanden, dass sein Immunsystem anfängt, das Virus zu zerstören, bevor es sich vermehren kann.«
Rauber spielte mit seinem Taschentuch. »Ralf fand die Lösung. Sein Team fügte dem CGV ein Gen aus einem anderen Virus hinzu, das zwischenzeitlich das Immunsystem schwächt. In dieser Zeit konnte sich das CGV-Virus dann bis zum nötigen Schwellenwert im Blutkreislauf vermehren.«
»Und dieses Gen stammt eventuell von dem Virus, dessen Bild man Ihnen vor einiger Zeit gezeigt hat?«, fragte Shapiro.
»Ich kenne die Einzelheiten nicht, aber ich erkannte auf dem Bild Gemeinsamkeiten mit dem CGV-Virion.«
Aus dem Projektionsraum hörte man das Geräusch eines Summers, und die Leinwand wurde wieder dunkel.
»Was passiert, wenn das Virus, das dieser Denk entwickelt hat, einen Menschen ansteckt?«
»Es würde sich unter der Bevölkerung verbreiten und seinen jeweiligen Träger zwei
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