Ewige Nacht
Grenzübergang Vaalimaa. Wenn sich der Fahrer nicht bald meldete, musste er angerufen werden. Der Sinn der Kontaktaufnahme bestand darin, der Besatzung im Fahrzeug das Gefühl zu vermitteln, dass die Firma auf sie aufpasste.
Der blaugraue VW-Lieferwagen stand im hellen Licht der Scheinwerfer am Grenzübergang Vaalimaa. Nach dem Regen waren überall große Pfützen auf dem Asphalt.
Vakkuri reichte dem russischen Beamten seinen und Ralfs Pass sowie die Papiere, die sicherstellten, dass die versiegelte Fracht nicht kontrolliert wurde. Kurz zuvor hatte auf der anderen Seite der finnische Zoll dieselben Papiere angeschaut.
Ralf hatte die Fracht nicht angerührt. Sie interessierte ihn auch nicht.
Er beobachtete die Fahrzeuge hinter ihnen, unter denen auch das von Noora und Sakombi sein musste. Sie hatten den finnischen Beifahrer gefesselt und in Virojoki zurückgelassen, am selben Ort wie Vakkuris Frau und Kind. Ralf hatte den Platz und die Rolle des Beifahrers eingenommen. Noch immer spürte er keine Erleichterung, obwohl bislang alles nach Plan lief. Die eigentliche Prüfung stand erst bevor.
Er beobachtete Vakkuri genau. Sein Verhalten erschien ihm den Umständen entsprechend einigermaßen natürlich. Innerhalb weniger Minuten war der Routinevorgang erledigt.
Sie fuhren weiter. Nach den hellen Scheinwerfern der Zollstation legte sich nun die Dunkelheit über die Straße. Während der ganzen Fahrt hatten sie kein Wort gesprochen, abgesehen von Ralfs wenigen unvermeidlichen Anweisungen. Der Fahrer durfte nicht wissen, wie es um Ralfs Finnischkenntnisse bestellt war. Auch das Radio blieb aus.
Kurz vor der Grenze war Vakkuri gezwungen worden, mit seiner Frau zu sprechen, zur Erinnerung. Dabei war klar, dass der Finne keine Heldentaten versuchen würde.
»Halt!«, sagte Ralf und deutete auf den Straßenrand.
Vakkuri setzte den Blinker und fuhr rechts ran.
Ralf sah in den Spiegel. Man hörte nur den Motor im Leerlauf, sonst nichts.
Bald tauchten hinter ihnen die Lichter eines Autos auf, das von der Grenze her kam.
»Fahr!«, sagte Ralf. Bei kurzen Wörtern fiel sein Akzent weniger auf.
Noora und Sakombi verringerten die Geschwindigkeit, sie warteten, bis der VW wieder losgefahren war.
Da klingelte vor Vakkuri das Navigationstelefon am Armaturenbrett, zum ersten Mal.
Ralf fuhr zusammen. Vakkuri warf ihm einen ängstlichen Blick zu.
»Sprich kurz«, sagte Ralf auf Finnisch. »Alles okay«
Genau wegen solcher Situationen war es notwendig, dass Vakkuri von Ralfs Finnischkenntnissen überzeugt war.
Der Fahrer drückte auf einen Knopf am Telefon und sprach in sein Freisprech-Mikrofon: »Vakkuri.«
Der entspannt klingende Anrufer sagte etwas, von dem Ralf kein Wort verstand.
Vakkuri antwortete folgsam und natürlich.
Ralf beeilte sich, ihm durch Handzeichen zu signalisieren, er solle das Gespräch beenden. Jede Sekunde in einer ihm unbekannten Sprache war zu viel, jedes gesprochene Wort war ein Risiko, auch wenn er nicht im Ernst glaubte, dass der Fahrer versuchen würde, eine SOS-Nachricht zu übermitteln und damit die Sicherheit seiner Familie zu riskieren.
Vakkuri beendete das Gespräch. Ralf schwieg. Er wollte durch nichts verraten, dass er kein Wort verstanden hatte.
Hinter ihnen leuchteten die Lichter von Nooras und Sakombis Wagen. Die Luft war kälter als auf der finnischen Seite. Über dem Nadelwald entlang der Straße riss die Wolkendecke auf und gab einen sternenklaren Herbsthimmel frei.
Als Ralf auf die Uhr schaute, schnürte es ihm vor Anspannung die Kehle zu. Der inständig erwartete und sorgfältig geplante Augenblick war verdammt nahe.
6
»Du hast Aaro einen Film mitgebracht«, sagte Timo im Schlafzimmer, das von einer alten Stehlampe mit gelbem Schirm erleuchtet wurde.
»Jetzt fang bitte nicht damit an«, erwiderte Soile und legte ihre Uhr auf den Nachttisch. »Er ist französisch synchronisiert. Wenn das hilft, Aaros Sprachkenntnisse zu verbessern, ist das doch ein feine Sache, oder nicht?«
»Oh! Wird da sogar gesprochen? Der Hülle nach werden in dem Film bloß Menschen abgeknallt.«
»Ich bitte dich: alle seine Freunde …«
»Das habe ich schon gehört. Millionen Fliegen können nicht irren. Aber unsere Fliege hier geht nicht an diesen Haufen!«
Soile legte Timo versöhnlich die Hand auf die Schulter. »Wir können den Jungen nicht in Watte packen.«
»Der Film hat eine Altersgrenze, und zwar nicht zufällig. Aaro versteht das auch. Nur du scheinst es nicht zu
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