Ewige Nacht
dem Deck.
Schweren Herzens drückte Aaro die Tasten seines Telefons. Der SMS-Service kostete 1,12 Euro, aber er hatte beschlossen, das Geld zu opfern.
Er schrieb AUTO JCG 897 und wartete. In der Kabine hatte er kein gutes Netz gehabt, darum war er zu dem Getränkeautomaten in der Zwischenhalle gegangen, wo sich die Aufzüge befanden. Er hatte sich einen Stuhl ans Fenster gezogen und einen Fuß lässig aufs Fensterbrett gelegt. Draußen herrschte tiefe Dunkelheit.
Das Telefon piepste. Aaro öffnete ungeduldig die Mitteilung von der Zulassungsstelle: JCG 897 W OHNMOBIL F IAT D ETHLEFFS, E IG. S OLJANDER, M ARKKU …
»Hat man bis hierher noch Netz?«, fragte jemand hinter ihm auf Finnisch.
Aaro erschrak und drehte das Display seines Handys nach unten. Die Finnin aus der Nachbarkabine stand vor dem Getränkeautomaten und grub in ihrer Hosentasche nach Münzen.
»Auf dem Meer gibt’s ja keine Hindernisse«, sagte Aaro und räusperte sich. Er fragte sich, ob die Frau und der Mann sein Interesse ahnen konnten, aber das war unmöglich. Er musste sich natürlich geben, denn jetzt hatte er die unschlagbare Gelegenheit, Informationen zu sammeln.
»Sind Sie nach Deutschland unterwegs?«, fragte er wie beiläufig.
»Fährt dieses Schiff nicht dorthin?«, fragte die Frau grinsend zurück und steckte Münzen in den Automaten.
Ich bin so blöd, dachte Aaro. Ich versaue alles. Was wird Papa dann sagen?
»Und du? Bist du auf Urlaubsreise?«, wollte die Frau wissen. Eine Getränkedose rumpelte in den Trog. »Müsstest du nicht in der Schule sein?«
»Nein … das heißt, eigentlich doch. Ich fahr nach Brüssel. Die Schule fängt dort erst nächste Woche wieder an.«
Die Frau nahm die Cola-Dose heraus und riss sie auf. »Arbeiten deine Eltern dort?«
»Mein Vater. Meine Mutter ist in Genf. Beim CERN.« Aaro war stolz auf den Arbeitsplatz seiner Mutter in der renommierten Forschungseinrichtung für Teilchenphysik und ließ keine Gelegenheit aus, damit anzugeben.
»Forscherin?«
Aaro nickte zufrieden. »Physikerin. Hat über Elementarteilchen promoviert. Ziemlich haariges Thema.«
»Gelinde gesagt. Und was macht dein Vater?«
»Der ist Beamter.«
Auf einmal spürte Aaro einen Stich im Oberschenkel. Er fuhr herum und sah den Freund der Frau mit ausgestrecktem Arm direkt neben sich stehen. Aaro wurde seltsam schwindlig, Müdigkeit überfiel ihn, von Sekunde zu Sekunde wurde es schlimmer, bis die Welt um ihn herum erlosch.
15
Timo verließ das Deck in Richtung Bar. Während er an den Tischen mit den LKW-Fahrern vorüberging, blickte er sich verstohlen um. »Und ratet mal, was der Franzose gemacht hat, mitten auf dem Rastplatz vor Lyon …«
Timo ging weiter in die Halle mit dem Schalter des Pursers, um dort die große Seekarte an der Wand zu studieren. Ein paar Reisende schlenderten an ihm vorbei.
Von den Bewohnern der Nachbarkabine war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Timo hatte sich eine sichere Taktik zurechtgelegt, um mit dem Paar ins Gespräch zu kommen, aber er musste sich eingestehen, dass er nervös war. Er musste möglichst viel aus ihnen herausbekommen, aber sie durften auf keinen Fall irgendetwas ahnen.
Er betrat den kleinen Laden und nahm sich eine Flasche Mineralwasser aus dem Regal. Er hatte Sodbrennen vom vielen Essen. Im Laden lagen beide finnischen Boulevardzeitungen aus. Der Überfall auf den Werttransport hatte es noch nicht bis in die Schlagzeilen geschafft, aber zum Zeitvertreib nahm Timo eines der beiden Blätter. Dazu kaufte er Aaro eine kleine Tafel Schokolade, weil sein Sohn in der Kabine ohnehin danach fragen würde. Zum Glück hatte der Kerl den Körperbau seiner Mutter geerbt.
Auf dem Kabinengang war es noch stiller. Timo zog die Magnetkarte aus der Tasche und verlangsamte ein gutes Stück vor der Nachbarkabine den Schritt. Von dort drang kein Laut auf den Gang. Er öffnete die Tür zu seiner Kabine und sah, dass sie leer war. Offenbar vertrat sich Aaro die Beine. Timo legte sich aufs Bett und las die Zeitung. Nachdem er damit durch war, stand er auf und fragte sich, wo Aaro blieb.
Zuerst suchte er ihn bei dem Getränkeautomaten in der Halle. Von dort ging er zu dem Laden weiter, der inzwischen geschlossen hatte.
Allmählich machte Timo sich Sorgen. Er warf einen Blick ins Restaurant, wo das Stimmengewirr im dichten Zigarettenqualm zugenommen hatte. Das Purserbüro war geschlossen. Timo ging wieder aufs Deck hinaus, um nachzusehen, ob Aaro womöglich frische Luft
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