Ewige Nacht
antwortete nicht, sondern schielte schon zu dem Desserttisch nebenan.
Vorsichtig trug Timo sein voll beladenes Tablett an einen Tisch. Das Schiff schaukelte leicht.
»Hoffentlich kommt kein Herbststurm«, sagte er zu Aaro, der sich zu ihm setzte.
»Sollen wir mal nachsehen, wie die Wetteraussichten sind?«, fragte der und streckte die Hand nach Timos Telefon aus, das neben dem Tablett lag.
Timo legte die Hand auf sein Handy. »Schon gut. Es kommt, wie es kommt. Die paar Euro können wir sparen.«
»Per SMS geht das schnell.«
»Trotzdem.«
Timo schnitt sein Fleisch und tunkte ein Stück in die Sahnesoße. »Zwischen uns gibt es einen grundsätzlichen Unterschied. Du bist ein digitaler Mensch, und ich bin ein analoger.«
»Nicht mal das. Du bist ein mechanischer.«
»Und Mama?«, fragte Timo lächelnd.
»Hyperdigital. Weißt du, was in Belgien ein gebrauchtes Wohnmobil kostet?«
»Vergiss es. Iss jetzt.«
»Als ich vorhin unten war, hab ich geglaubt, in einem Wohnmobil wäre ein Einbrecher. Aber dann hat er die Tür abgeschlossen, kann also kein Dieb gewesen sein … Da, der Mann mit den grauen Locken am Fenstertisch«, sagte Aaro mit einer Kopfbewegung in die entsprechende Richtung.
»Du hast eine viel zu lebhafte Fantasie. Hol dir noch Fisch, wie willst du bei solchen Portionen wachsen?«
»Wieso? Schließlich stammt die Hälfte meiner Gene von dir. Mama sagt, wenn man so einen Stoffwechsel hat …«
»Iss.’«
Mit der Gabel entfernte Aaro die dunkleren, etwas fetteren Bestandteile des Fischs und beförderte sie an den Tellerrand. Timo seufzte und schwieg.
»Weißt du, dass die Raupe eines nordamerikanischen Nachtfalters an ihren ersten 56 Lebenstagen das Sechsundachtzigtausendfache ihres eigenen Körpergewichts verzehrt? Auf den Menschen übertragen hieße das …«
Aaros Blick ging in die Ferne und hielt inne.
»Da sind sie«, sagte er mit gesenkter Stimme.
Timo blickte in dieselbe Richtung und sah, wie sich das Paar aus der Nachbarkabine am Buffet anstellte.
»Ja?«, flüsterte Timo, als würde ihn das Paar kein bisschen interessieren. »Das hieße was?«
»Wie was?«
»Die Nahrungsmenge der Raupe auf den Menschen übertragen.«
»Das hieße, dass ein Baby von drei Kilo Körpergewicht in derselben Zeit 273 Tonnen Nahrung verschlingen würde«, sagte Aaro leise und leicht beleidigt.
»Du konzentrierst dich auf deine eigenen Angelegenheiten. Was auf dem Schiff passiert, hat dich nicht zu interessieren. Hast du vergessen, was wir vereinbart haben? Eine Bemerkung über unsere Kabinennachbarn, und der Herr darf den Herbst ohne Internet auskommen.«
14
Noora nahm sich einen Teller vom Stapel. Dabei bemerkte sie, dass Ralf auf etwas aufmerksam geworden war. Sie gingen langsam weiter und stellten sich ihre Mahlzeit zusammen.
»Der Mann und der Junge aus der Kabine neben uns …«, sagte Ralf leise, während er sich Salat nahm. »Hast du die schon mal gesehen?«
»Wieso?«
Ralf antwortete nicht. Er sah, dass der Salat schmale Schinkenstreifen enthielt, ließ den Teller neben der Salatschüssel stehen und nahm sich einen neuen.
Am Tisch angelangt, sagte Ralf: »Sie haben über uns geredet.«
»Wer?«
»Der Mann und der Junge. Als wir uns angestellt haben. Der Junge hat uns bemerkt und etwas zu seinem Vater gesagt. Warum interessieren die sich für uns?«
»Weil sie wissen, dass wir ihre Kabinennachbarn sind.«
Ohne etwas zu erwidern, aß Ralf seine Karottenrohkost. Als der Teller leer war, ging er zum Buffet zurück, um sich etwas von dem warmen Gemüse zu holen. Sakombi tauchte neben ihm auf und schaufelte sich den Teller mit Brokkoli voll.
Ralf machte keine Kopfbewegung, er riskierte nicht einmal einen Blick, sondern sagte nur zu Sakombi: »Verschwinde.«
»Jemand hat durch die Scheibe geguckt, als ich im Wohnmobil war. Der Junge am Fenstertisch.«
Danach ging Sakombi zum Salat, und Ralf kehrte an seinen Tisch zurück. Er ließ seinen wachsamen Blick zum Fenstertisch gleiten. Jetzt saß nur noch der Vater dort.
Aaro drückte das Glas gegen den Sperrhebel des Getränkeautomaten und ließ Milch einlaufen. Noch bevor das Glas voll war, ging er um die Ecke, um zu sehen, ob die Männer noch immer miteinander redeten.
Nein. Der aus dem Wohnmobil saß allein an seinem Tisch, der andere etwas weiter weg neben der finnischen Frau.
Aaro fing an zu spekulieren. Sein Vater interessierte sich für das Paar in der Nachbarkabine – sie hatten irgendwas mit einem schweren Verbrechen
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