Ewige Nacht
Rücken durch und schloss die Augen.
Der Papst. Der Nachfolger Petri. Gottes Stellvertreter auf Erden.
Ja. Der größte Fundamentalist der Christenheit.
Ralf hörte die Stimme seines Vaters, der ihm und Theo im Licht der Öllampe aus der Bibel vorlas. Die kleinen Jungen lagen in ihrem Bett, draußen, hinter dem Fliegengitter, hörte man die Geräusche der afrikanischen Nacht. Ralf hatte sich nach seiner Mutter gesehnt, obwohl er wusste, dass sie etwas Böses getan hatte. Er hätte gern darüber gesprochen, aber über die Mutter konnte man mit dem Vater nicht reden, auch nicht mit Onkel Eugen, mit niemandem. Die Erinnerung an die Mutter war in den Augen der Erwachsenen zur Schande geworden, zur Last, über die man schweigen musste. Nur Ralf weigerte sich. Je intensiver sein Vater und Eugen die Mutter verleugneten, umso tieferes Interesse fasste Ralf an ihrer totgeschwiegenen Geschichte.
Ralf hatte Noora von seiner Mutter erzählt, das war der größte Vertrauensbeweis, den er jemandem geben konnte. Seine Mutter war fünfzehn Jahre jünger gewesen als sein Vater. Genauso viele Jahre war Noora jünger als Ralf.
Ralf hoffte, Noora besser zu kennen, als sein Vater seine Mutter gekannt hatte. Wie hatte sich der fromme Katholik und Stützpfeiler des deutschen Konservatismus gefühlt, als die junge Journalistin, mit der er verheiratet war, sich nach ihrem Tod als Mitglied einer radikalen Bewegung entpuppte? Was hatte die Mutter auf diesen Weg getrieben?
Obwohl Ralf die Haltung seines Vaters bezüglich der Erinnerungen an seine Frau nicht gut fand, hatte er doch Verständnis dafür gehabt. Am schwierigsten musste es für seinen Vater gewesen sein, nie die Motive seiner Frau erfahren zu haben. Sie hatte keinerlei Papiere oder Tagebücher zurückgelassen, die nach ihrem Tod Aufschluss über ihr Tun hätten geben können. Kurz nachdem sie nach Südafrika gegangen waren, starb der Vater, und Ralf war mit Theo und Onkel Eugen zurückgeblieben.
Erst als Ralf sieben Jahre nach dem Tod seiner Mutter, als achtzehnjähriger Student, nach Deutschland kam und die ehemaligen Genossen der Mutter aufsuchte, wurde das Bild von ihr allmählich vollständig. Damals ging gerade eine heiße Welle von Gewalt durch Deutschland. Hanns-Martin Schleyer war entführt worden, und die ganze Welt hatte verfolgt, wie die entzündeten Schmerzpunkte der westdeutschen Gesellschaft pulsierten.
Ralf war zum schlimmsten und gleichzeitig besten Zeitpunkt auf der Bildfläche erschienen. Die Genossen seiner Mutter reagierten hochgradig nervös auf ihn, erkannten aber bald seine ehrlichen Absichten.
Aufgrund der explosiven Lage konnte Ralf nicht den Leuten begegnen, mit denen seine Mutter am meisten zu tun gehabt hatte, aber er traf immerhin jemanden, der ihm ein lebendiges Bild von Renata Kohler zeichnen konnte.
Die Schleyer-Entführung endete in einer Katastrophe, und Baader und Ensslin begingen in ihren Gefängniszellen Selbstmord. Damit waren die letzten Genossen der Mutter tot. Ohne den Verwandten väterlicherseits einen Besuch abgestattet zu haben, kehrte Ralf zum Studium nach Kapstadt zurück, von wo aus er fortan das langsame Dahinsiechen der RAF verfolgte. Im Jahr 1981 hatte sie noch einmal ihre letzten Kräfte gesammelt und den hessischen Wirtschaftsminister Karry hingerichtet, weil der Belohnungen ausgesetzt hatte für Informationen, die zur Festnahme von RAF-Mitgliedern führten.
Nach und nach versiegten die Aktivitäten der Organisation, und 1988 schickte sie ein Kommuniqué an Reuters, in dem sie die Einstellung aller Aktionen ankündigt e. Ralf mochte symbolische Gesten, und obwohl die G1 schon ein Jahr zuvor ihre Tätigkeit aufgenommen hatte, wurde als Gründungstag fortan der Tag der Aufhebung der RAF genannt.
In der Gründungsurkunde der G1-Gruppe hatte Ralf seine Mutter Renata Kohler als Mitglied aufgeführt.
Ralf verließ die Kirche und trat wieder in das Gewimmel auf dem Petersplatz hinaus. Eine Gruppe spanischer Touristen strömte langsam auf den Viale Vaticano und das Vatikanmuseum zu. Ralf überholte die Gruppe, die willenlos ihrem Anführer zu folgen schien, und ging durch die Kolonnaden von Bernini hindurch zur Via di Porta Angelica. Er suchte den Schatten der links hoch aufragenden Mauer, ging mit raschen Schritten weiter und wich nur hier und da einzelnen Touristen aus. Nachdem die Straße einige Biegungen gemacht hatte, musste er sich in eine Schlange reihen. Junge Studenten drängten sich als persönliche Guides
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