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Ewige Nacht

Ewige Nacht

Titel: Ewige Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
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und auf die verkehrsreiche Straße. In der Via della Conciliazione flimmerte die warme Luft. Autos hupten. Steinerne Heilige segneten die Passanten. Der Lancia hielt im Licht der Laternen hinter einem Touristenbus an.
    Ralf stieg nach Noora aus dem Wagen. Inmitten von Touristen schoben sie sich bis zum Rand des Platzes vor dem Petersdom vor. Ein polnischer Fremdenführer mit Lech-Walensa-Bart schwenkte mit kräftigen Zügen eine rotweiße Fahne in Richtung Kuppel, und die dunkel gekleidete Reisegruppe lauschte mucksmäuschenstill seinem Vortrag. Ralf blickte erneut auf die Uhr. Noch fünfundfünfzig lange Minuten waren totzuschlagen.
    »Wir treffen uns in exakt fünfundvierzig Minuten vor dem Bronzetor«, sagte er leise zu Noora.
    Sie mussten die Wartezeit in den Diensträumen des Papstes auf ein Minimum beschränken.
    Noora nickte. Blass, aber entschlossen betrachtete sie die Menschenmassen.
    Der Petersdom, das geistige Zentrum der katholischen Kirche, erhob sich vor Ralf wie ein majestätischer Berg. Am Rand des Platzes sammelten Busse Reisende ein, große Gruppen Südamerikaner, Asiaten, Europäer, Afrikaner, Nordamerikaner. Papst Clemens XV. war auf allen Kontinenten beliebt.
    Ralf ging langsam, setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen. Zwischen den Reisenden mit ihrer grellen Kleidung und ihren Kameras fielen die Bediensteten des Vatikans mit ihren schwarzen Gewändern, ihren Baskenmützen und ihren Schuhen mit dicken Sohlen auf. Die Stimmung auf dem Platz erinnerte an einen Karneval, bei dem sich das Irdische mit dem Himmlischen mischte. Eine zerlumpte Zigeunerin schob sich aus dem Gedränge vor Ralf und breitete eine lange Postkartenziehharmonika vor ihm aus.
    »Cinque Euro, per favore!«
    Ralf sah sich die Bilder an, die ihm da aufgedrängt wurden: Clemens XV. grüßte mit Hirtenstab und Kreuz eine Schar von hunderttausend Menschen. Eine Zeichnung des segnenden Papstes: Urbi et Orbi.
    Der geistige Führer von über einer Milliarde Katholiken. Der größte Fundamentalist der Christenheit.
    Ralf warf einen Blick auf die Gemächer des Papstes, auf die hohen, dunklen Fenster in der hellen Fassade. Die Menschenmenge um ihn herum lärmte, aber drinnen bei ihm war es still.
    »Per favore!«, sagte die Zigeunerin in schärferem Ton und drohte mit den Postkarten. Ralf ging auf den von Touristen umgebenen Obelisken zu. Er registrierte ein Carabinieri-Gespann in Uniform. Die Mauern des Vatikans, die hinter den beiden aufragten, erinnerten an eine Festung.
    Plötzlich spürte Ralf, dass ihn jemand anstarrte. Ein Mann mit Cherubimgesicht stand einen halben Meter vor ihm und leierte ein monotones Gebet herunter. Mit erhobenem Arm kam er näher. »Jesu Christe, cum Sancto Spiritu in gloria Dei Patris …«
    Mit versteinertem Gesicht machte Ralf einen Schritt zur Seite und ging auf den Petersdom zu. Er ließ sich vom Menschenstrom zum rechten Ende der Kolonnaden von Bernini treiben, wo Carabinieri die Eintretenden mit einem Metalldetektor kontrollierten. Trotz seines Handys wurde Ralf der Zutritt nicht verweigert, auch wenn ein Carabiniere die Stirn runzelte. Nach der Kontrolle war der Weg frei, und Ralf ging auf eine hohe Treppe zu.
    Wie im Traum schritt er durch die gewaltige Tür und machte das Kreuzzeichen. Die Kirche war erdrückend groß, beinahe zu gewaltig, um real zu sein. Wie Goethe hatte er das Gefühl, die Ewigkeit zu betreten. Das menschliche Spektakel blieb außerhalb der kühlen, halbdunklen Kathedrale. Ralf spürte die Stille in sich anschwellen. Alles geschah wie in Zeitlupe, und den Schritten schien jeder Laut genommen.
    Wie groß musste einem erst die genaue Nachbildung des Petersdoms vorkommen, die Félix Houphouët-Boigny, der Diktator der Elfenbeinküste, für 350 Millionen Euro in seinem Heimatdorf Yamassoukro hatte errichten lassen?, dachte Ralf. Dort konnte man die entsetzlichen Hegemoniebestrebungen der katholischen Kirche im Kampf um die immer zahlreicher werdenden Seelen der bevölkerungsreichen Kontinente besichtigen. Auf Bitte des Papstes hatte man die Kuppel immerhin etwas niedriger als die des Originals gelassen.
    Ralf ging an Michelangelos Pietà vorbei, die durch Glas geschützt war. Er trat unter die Kuppel, neigte den Kopf, um die goldene Inschrift lesen zu können: Tu es Petrus et super hanc petram …
    Ralf spürte, wie es ihm den Atem nahm. Er betastete seine Brusttasche mit dem metallenen Stift. Die Stille in seinem Innern hatte sich in ein Rauschen verwandelt. Er streckte den

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