Ewige Nacht
es das Beste, ihn einfach tun zu lassen, was er für richtig hielt. Trotzdem hatte Noora Angst, Theos Tod könnte Ralf völlig aus der Bahn werfen.
Mit einem Papiertaschentuch zwischen Fingern und Zündschlüssel ließ Ralf den Motor an. Abgase quollen ins Auto. Er redete sich ein, dass es keine andere Möglichkeit gab. Sie hatten bei der Frau eindeutige Beweise gefunden: Sie war Polizistin. Und sie brauchten jetzt jede Minute Vorsprung.
Ralf wusste, dass er auch aus Rache für Theos Tod handelte. Er agierte wie eine Maschine. Er hatte das Recht dazu.
Noch einmal hob er ein Augenlid der Frau an, um sich zu versichern, dass sie bewusstlos war. Er hatte das Barbiturat genau dosiert, denn nur eine minimale Menge wäre später bei der Obduktion nicht nachweisbar.
Dann stieg Ralf aus dem Wagen und schlug entschlossen die Tür hinter sich zu.
Das in Finnland zugelassene Dethleffs-Wohnmobil fuhr von Norden her über die A5 auf Frankfurt zu. Am Steuer saß ein dunkelhäutiger Mann um die sechzig. Er behielt den Verkehrsstrom fest im Auge.
Sakombi Ladawa war im Begriff, die größte Entscheidung seines Lebens zu treffen, aber das fiel ihm nicht schwer. Es kam ihm vor, als wäre seine ganze bisherige Existenz die Vorbereitung auf die Prüfung gewesen, die ihm nun bevorstand: die materiell arme, aber in geistiger Hinsicht reiche Kindheit im Kongo, der Umzug nach Brüssel und dann nach London, die Plackerei im Großmarkt und bei den Verkehrsbetrieben, die Suche nach der eigenen Identität in einer multikulturellen Umgebung, das späte Studium an der offenen Universität und später in der hydrologischen Abteilung des Instituts für Biologie an der Universität London, die freiwilligen Tätigkeiten für Umweltorganisationen – und immer wieder die zwanghaften Reisen an den Ort seiner Kindheit, in die eigene Vergangenheit und in die Vergangenheit eines Volkes, das viel erlitten hatte.
Sakombi warf sich den Samen eines Madawe-Strauchs in den Mund. Von seiner letzten Reise in den Kongo hatte er eine große Tüte davon mitgebracht. Der bittersüße, ölige Geschmack versetzte ihn im Nu in seine Heimat zurück.
Aus weiter Ferne drang das tiefe Geräusch eines Motors im Leerlauf in das Bewusstsein von Heidi Klötz. Sie hatte eine Tür zufallen gehört, war danach aber wieder in die Bewusstlosigkeit gefallen.
Die kleinste Bewegung ließ ihren Kopf schmerzen, aber etwas in ihrem Innern zwang sie dazu, sich zu bewegen. Der Kopf und die Gliedmaßen waren wie in Beton gegossen. Je mehr sie versuchte, die Hand zu bewegen, umso unmöglicher kam es ihr vor und umso bewusster wurde sie sich ihrer Umgebung.
Mit letzter Willenskraft gelang es ihr, die Hand zum Türgriff zu bewegen und daran zu ziehen. Sie lehnte ihr gesamtes Körpergewicht gegen die Tür und fiel neben dem Wagen auf die Erde.
21
Der Lancia stand in einem schattigen Innenhof in der Via Cicerone in Rom. Aus einem uralten Springbrunnen sprudelte Wasser, drum herum scharten sich Pfadfinder und füllten ihre Trinkflaschen. Die Sonne schien durch die Blätter eines Trompetenbaums. Es herrschte eine gelassene, gedämpfte Stimmung.
Ralf und Noora saßen in gedeckter Kleidung auf der Rückbank. Sie hätten ein Paar vor der Hochzeit sein können, aber die Atmosphäre im Wagen erinnerte eher an eine Beerdigung.
Ein Fahrer hatte sie vom Flughafen Fiumicino abgeholt und direkt zum Vatikan gebracht. Im römischen Verkehrsgewühl war die Hitze unerträglich geworden. Die Pfadfinder lärmten, die ausgelassensten von ihnen hängten die nackten Füße in den Brunnen.
Ralf nahm einen Gegenstand, der an einen Füller erinnerte, aus einem kleinen Metalletui und steckte ihn in die Brusttasche. Er blickte auf die Uhr, dann zu Noora und gab sich Mühe, aufmunternd zu lächeln, aber es gelang ihm nicht.
Theos Tod steckte ihm tief in den Knochen. Zwar überraschte ihn dessen Tat nicht, aber gerade jetzt war sie für ihn besonders schockierend. Die Polizei war ihnen auf den Fersen, viel dichter, als Ralf sich das vorgestellt hatte.
Er nahm das Telefon zur Hand und rief Tobias an. Sie mussten Gegenmaßnahmen ergreifen, für den Fall, dass sich der Ring zu eng um sie schloss. Tobias würde die Adresse des finnischen Polizisten vom Schiff herausfinden. Dort gab es mindestens ein Mittel, mit dem man ihn erpressen konnte: den Jungen.
»Fahren wir«, sagte Ralf, nachdem er kurz mit Tobias gesprochen hatte.
Der Fahrer trat aufs Gas, der Wagen glitt über das Kopfsteinpflaster zum Tor
Weitere Kostenlose Bücher