Ewige Versuchung - 5
grauen Augen an. Heute Abend, als sein Blick auf einmal so klar und konzentriert gewesen war, hatte er sie schrecklich durcheinandergebracht. Für einen Sekundenbruchteil war sie versucht gewesen, sich ihm hinzugeben. Sie hatte sich nicht einmal gewehrt, als er sie packte.
In diesem Moment hatte sie Rupert verraten.
Dabei behandelte Rupert Villiers sie wie eine Prinzessin, ganz anders als ihr leiblicher Vater, der sie an fahrende Monstrositätenaussteller verkauft hatte, als sie gerade vierzehn Jahre alt gewesen war. Gott allein wusste, wo sie heute ohne Ruperts Freundlichkeit wäre. Er hatte sie vor der fahrenden Truppe und vor ihrem Vater gerettet. Und dann ließ er sie auf einem Anwesen leben, wie sie es nie zuvor gesehen hatte, war sie doch in einem der Armenviertel Londons aufgewachsen.
Rupert sorgte dafür, dass es ihr an nichts mangelte, und im Gegenzug lernte sie alles, von dem er meinte, sie müsste es sich aneignen. Als er sie ermunterte, ihre naturgegebenen Fähigkeiten wie Kraft und Schnelligkeit zu vervollkommnen, war sie zwar beschämt und verlegen gewesen, hatte es jedoch ohne Widerrede getan. Schließlich hatte er sie gerettet, und deshalb wollte Vivian alles für ihn tun. Sogar sterben.
Als die französischen Glastüren hinter ihr aufgingen, zupfte Vivian ihren Ärmel herunter, damit er ihr Handgelenk bedeckte, und verbarg den Arm hinter ihrem Rücken.
Rupert kam mit einem Lächeln zu ihr, das verlässlich eine Welle von Zuneigung und Dankbarkeit in ihr auslöste. »Guten Abend, Kleines.«
Sie lächelte und überlegte, zu ihm zu laufen und ihn zu umarmen, aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie auf ihre Manieren achten musste. Er mochte ihr gestatten, in Hosen und mit einem Dolch herumzulaufen, aber er erwartete, dass sie sich so damenhaft betrug, wie er es sie lehrte.
Seine leuchtend blauen Augen funkelten bei ihrem Anblick, und kleine Fältchen bildeten einen Fächer von seinen Augenwinkeln bis über seine oberen Wangen. Mit seinen achtundvierzig Jahren war er ein Mann in der Blüte seines Lebens: gutaussehend, wohlhabend, selbstsicher – kurzum: Er fühlte sich sichtlich wohl in seiner Haut. Sein dichtes schwarzes Haar ergraute an den Schläfen, was der distinguierten Aura zuträglich war, die seine ansonsten jugendliche Contenance umgab.
Ohne ihn wüsste Vivian gar nicht, was das Wort
Contenance
bedeutete. Sie schuldete ihm so viel, ihr Leben womöglich, und doch …
Temples Bild erschien in ihrem Kopf. Ganz klar sah sie sein langes zerzaustes dunkles Haar, sein kantiges stoppelübersätes Kinn und den unnachgiebigen Mund. Aus seinem bronzefarbenen wie gemeißelt wirkenden Gesicht leuchteten die grünen Augen mitten in ihre Seele hinein, entblößten sie und entlarvten all ihre Geheimnisse. Es war, als würde er sie kennen, als wüsste er, was sich in ihrem Herzen verbarg. All die Wochen, die sie ihn gefangen gehalten hatten, sprach er nie ein einziges unfreundliches Wort zu ihr – bis heute Abend.
Ein großer Mann war er, größer als sie mit ihren eins dreiundachtzig. Er verstand es, ihr das Gefühl zu geben, zart zu sein. Als er sie vorhin gepackt hatte, tat er ihr nicht weh, was er leicht hätte tun können. Er hielt sie sanft fest, und seine Zunge auf ihrer Haut zu spüren, war fast nicht auszuhalten gewesen.
Vielleicht fühlte sie sich deshalb so gefährlich in Versuchung geführt. Mit Ausnahme von Rupert hatte ihr in ihrem Leben kaum jemand Verständnis oder Geduld entgegengebracht, und es kam selten vor, dass ein Mann sie behandelte, als wäre sie zierlich oder gar weiblich. In Temples Nähe jedoch wurde Vivian sich ihrer Weiblichkeit überaus bewusst.
Ihr Beschützer, ihr Freund betrachtete sie eine Weile schweigend. »Du warst im Keller, nicht wahr?«
»Ja.« Sie hielt seinem Blick stand, obwohl sie ihm gern ausgewichen wäre. »Erklär mir noch einmal, warum er hier ist, Rupert.«
»Weil er mir nützlich ist.« Seine Augen verengten sich kaum merklich. »Hat er versucht, mit dir zu sprechen? Hat er dich berührt? Er ist eine gefährliche Kreatur, Vivian.«
»Nein«, log sie und hielt ihren Arm weiterhin auf dem Rücken. »Würdest du mich in seine Nähe lassen, wenn er so gefährlich wäre?«
Er lächelte freundlich, fast gönnerhaft – auch das war ein Wort, das er sie gelehrt hatte. »Du bist stark, meine Liebe, aber nicht so stark wie Temple. Ich lasse dich für ihn sorgen, weil ich glaube, dass seine Ehre ihn davon abhält, dir Schaden zuzufügen.«
»Du
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