Ewiger Schlaf: Thriller
Schlafzimmertür vor ihm geschlossen hatte, begann er an sich selbst zu zweifeln. Was, wenn Lily tatsächlich wieder sie selbst geworden war, nachdem er das Schlafzimmer verlassen hatte? Er drückte ein Ohr an das Zypressenholz der Tür, hörte aber keinen Laut. Als er versuchte, den Knauf zu drehen, merkte er, dass sie abgeschlossen war.
»Lily?«, rief er.
Keine Antwort.
»Lily!«
Immer noch nichts.
»Lily, mach die Tür auf«, rief er mit mühsam beherrschter Stimme. »Ich muss mit dir reden.«
Die Stille verspottete ihn. Er sah hinunter auf den Messing-Türknauf. In seiner Mitte war ein winziges Loch. Annelise hatte das Schloss schon viele Male mit einer Büroklammer geöffnet. Waters wollte gerade eine holen, als er den Knauf leise klicken hörte. Als nichts weiter geschah, drehte er ihn und stieß die Tür auf.
Lily saß mit überkreuzten Beinen in der Bettmitte, die Handflächen nach oben gerichtet wie ein meditierender Hindu. Ihre weit aufgerissenen Augen brannten mit einem Feuer, das Waters wie angewurzelt stehen bleiben ließ.
Sie lächelte ruhig. »Schließ die Tür.«
»Das kannst du nicht tun«, sagte Waters.
»Es ist bereits geschehen. Komm herein, und schließ die Tür, Johnny. Ich bin es, die hier redet.«
Waters tat, was sie sagte.
»Ich möchte dir erklären, wie mein Vater starb«, sagte Lily. »Erinnerst du dich, was ich dir über ihn erzählt habe?«
Waters antwortete nicht. Er kam sich vor, als hätte ihm jemand das stärkste Halluzinogen der Erde injiziert. Die Stimme seiner Frau Mallorys tiefste Gedanken aussprechen zu hören – in Mallorys Redeweise – katapultierte ihn in eine Welt weit jenseits aller Furcht. Es stellte seinen Sinn für Realität auf den Kopf, sodass das Vertraute Entsetzen statt Zuneigung hervorrief und Furcht an die Stelle von Liebe trat.
»Du weißt, wovon ich spreche.«
Aus irgendeinem Grund schoss Waters das Bild von Penn Cage hinter seinem Schreibtisch durch den Kopf. »Dass er dich missbraucht hat?«
»Mhm. Das hast du mir damals nicht geglaubt, stimmt’s?«
Er versuchte zu erraten, worauf sie hinauswollte. »Wie kommst du darauf?«
Lily schüttelte tadelnd den Kopf. »Weil ich in dir war, Johnny. Ich kenne jetzt deine Gedanken. Deine Erinnerungen.«
»Ist es wirklich passiert?«
»Vielleicht nicht so, wie du es dir vorstellst. Aber es ist geschehen. Seit ich ungefähr zehn Jahre alt war, fühlte ich mich in der Nähe meines Vaters unwohl. Er sagte Dinge zu mir, die er nicht hätte sagen sollen. Er bemerkte Dinge an mir. Es begann mit Komplimenten, aber je älter ich wurde ... er sprach natürlich die ganze Zeit von meiner Schönheit. Aber dann war es mein Körper. Und meine ›Art‹, wie er es nannte. Meine ›verführerische Art‹. Er kam ins Badezimmer, wenn ich gerade drin war. Oder brachte mich irgendwie dazu, ins Bad zu kommen, wenn er gerade drin war und nichts anhatte.«
»Hat er dich angefasst?«
»Er wollte es. Meine Freundinnen wussten es auch. Manche jedenfalls. Er machte das Gleiche mit ihnen. Verbrachte zu viel Zeit mit uns statt mit den Erwachsenen. Berührungen, die ein bisschen zu lange dauerten. Es war nur Feigheit, die ihn davon abhielt, wirklich etwas Körperliches zu tun.«
»Wenn er dich niemals berührt hat, woher weißt du, dass er es wollte?«
»Das erzähle ich dir jetzt. Vor ungefähr vierzehn Monaten, als ich zum ersten Mal wieder nach Natchez kam, wollte ich unbedingt in mein altes Zuhause. Ich wollte mich daran erinnern, wie es war, und ein paar von meinen alten Dingen mitnehmen, wenn sie noch da wären. Aber das wollte ich nicht riskieren, solange ich in Danny war. Doch als ich in Eve kam, fühlte ich mich selbstsicher genug. Ich nahm den Schlüssel unter dem Stein im Blumenbeet, wo sie ihn schon immer versteckt hatten, und schlich hinein.«
Lilys Augen glänzten ob der Kraft der Erinnerung. »Ich hatte keine Ahnung, wie es sein würde. Ich fand mein Zimmer genau so vor, wie ich es verlassen hatte. Es war wie ein Schrein. Meine alten Kleider, meine Poster, meine Fotos. Meine Cheerleader-Uniform. Alles. Es war, als würde man nach Graceland fahren und Elvis’ alte Kostüme an Schaufensterpuppen sehen. Sie hatten sogar mein Miss-Mississippi-Kleid an einer Puppe in die Ecke gestellt.« Sie schauderte. »Ich hatte mich noch nie so tot gefühlt wie in diesem Zimmer. Jedenfalls nahm ich ein paar Kleinigkeiten mit. Ein paar Schnappschüsse. Ein Kreuz, das meine Großmutter mir geschenkt hatte. Ein Halstuch aus der
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