Ewiger Schlaf: Thriller
sie über Mallory wisse, doch sie wandte sich nur schweigend ab und ging wieder ins Bett. Diese Nacht war der Beginn seiner öffentlichen Beziehung zu Mallory – ein kleines Fenster des Glücks, durch das die ganze Welt golden aussah, und ohne dass die Schrecken der Zukunft in Sicht waren.
Jetzt, als er auf der menschenleeren Straße an der Papierfabrik vorbeifuhr, dachte Waters wieder an Mallory auf Dentons Party. Doch als sie diesmal bei den Pferdeställen die Maske abnahm, sah er nicht Mallorys Gesicht vor seinem geistigen Auge, sondern das Gesicht von Eve Sumner. Er versuchte, dieses Bild aus seinen Gedanken zu verbannen, doch je mehr er sich mühte, desto deutlicher sah er Eve vor sich. Er konnte Mallorys Gesicht nicht sehen. Es machte ihn wahnsinnig – wie wenn man versucht, sich an den Namen des Schauspielers zu erinnern, dessen Gesicht man gerade vor sich auf dem Fernsehschirm sieht. Frustration baute sich mit manischer Intensität in ihm auf. Er musste Mallorys Gesicht sehen.
Waters lenkte den Wagen auf die Lower Woodville Road und beschleunigte auf fast hundert Stundenkilometer. Keine drei Kilometer entfernt hatte er einen Lagerraum gemietet, eine klimatisierte Kammer voller Möbel und Kartons aus seiner Villa und dem Haus seiner Mutter. Mrs Waters hob alles Mögliche auf, und irgendwo in dieser Kammer stand ein Schrankkoffer mit dem Plunder, der aus den Ole-Miss-Zeiten erhalten geblieben war.
Er fuhr auf den Hof der Lagerfirma, tippte einen Zahlencode ins Schloss des Sicherheitstores und parkte neben einem langen Aluminiumgebäude. Der Raum lag fast am Ende des Gangs im Innern; der PIN -Code für das Schloss war Waters’ Sozialversicherungsnummer. Als er die Tür öffnete, schlug ihm muffiger Geruch entgegen. Er tastete nach dem Lichtschalter, drückte ihn und ging hinein.
Möbel und Kartons stapelten sich fast bis an die Decke, und auf allen verfügbaren ebenen Oberflächen lagen Plastiktüten mit alter Kleidung – zum Teil die seines Vaters – und defekte Lampen. Sogar die alten Werkzeuge seines Vaters waren noch hier, aufbewahrt wie die Instrumente eines renommierten Chirurgen. Bei einer anderen Gelegenheit hätte Waters sich vielleicht die Zeit genommen, ein paar der Sachen zu durchstöbern, aber heute Abend hatte er nur eines im Sinn.
Er fand den alten Schrankkoffer hinter ein paar Bücherkartons. Er war nicht verschlossen, und Waters riss den Deckel auf wie ein Herzinfarkt-Opfer auf der Suche nach seinen Tabletten. Der Koffer enthielt mehrere Kapitel seiner Vergangenheit, in keiner bestimmten Ordnung und mit keiner bestimmten Absicht hier deponiert. Er fand Football-Programme, Jahreszeugnisse, die Quaste seines Examenshuts, einen Stoß Liebesbriefe, der von einem Gummiband zusammengehalten wurde, geologische Proben, ein Gitarren-Plektrum von einem Jimmy-Buffett-Konzert, eine Schachtel mit Schnappschüssen von der Ole Miss und eine weitere mit Fotos aus jenen Sommern in Alaska, als er an den Pipelines gearbeitet hatte. Er war gerade im Begriff, die Fotos durchzusehen, als sein Blick auf eine gebundene Mappe fiel, die fast auf dem Boden des Schrankkoffers lag. Er hatte das Gefühl, als wäre in seinem Innern ein Schalter umgelegt worden: Die Mappe enthielt alles aus der Zeit, die er mit Mallory verbracht hatte – zumindest alles, was überlebt hatte. Irgendwann musste er diese Sammlung zusammengestellt haben, doch er erinnerte sich nicht einmal daran, dass er es überhaupt getan hatte.
Das Erste, was er sah, war ein Exemplar der Campus-Zeitung, Daily Mississippian, auf der Mallory Candler den größten Teil der Titelseite einnahm. MISS UNIVERSITY 1982!, verkündete die Schlagzeile. Die neue Miss Missisippi?, fragte eine kleinere Schrift. Darunter stand Mallory mit einem Dutzend Rosen im Arm. Sie blickte direkt in die Kamera und lächelte ihr Megawatt-Lächeln; ihr paillettenbesetztes Kleid hätte ebenso gut für Grace Kelly angefertigt sein können. In der gleichen Sekunde, da Waters ihr Gesicht sah, verschwand Eve vor seinem inneren Auge. Eve Sumner hatte die sinnlichen, aber nicht ungewöhnlichen Gaben eines wundervollen Körperbaus, schöner Brüste und sinnlicher Augen. Mallorys Schönheit jedoch war von der Art, wie sie nur einmal in einem Jahrzehnt vorkommt. Ihre Gesichtszüge schienen aus der Ewigkeit zu stammen und für die Ewigkeit bestimmt zu sein. Als Waters die Zeitung ergriff, um nach weiteren Fotos zu suchen, klingelte das Mobiltelefon in seiner Tasche und schreckte ihn auf.
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