Ewiger Schlaf: Thriller
Schreibtisch, und er merkte, dass er es hatte fallen lassen.
»Johnny? Bist du noch dran?«
»Ja.«
»Ich will, dass wir uns irgendwo treffen. Du weißt doch, wo Bienville ist? Die alte Villa? Sie gehört dem Denkmalschutzamt und soll verkauft werden. Ich kann den Schlüssel bekommen. Ich bin in zwanzig Minuten dort und warte auf dich.«
»Ich werde nicht kommen.«
»Ich fahre jetzt los. Wir sehen uns in zwanzig Minuten.«
»Eve ...«
Sie hatte aufgelegt.
Er saß wie betäubt am Schreibtisch. Sie hatte so verdammt schnell geantwortet. Wenn es hier und da ein kleines Zögern gegeben hatte, lag es wohl an der Überraschung. Auch Mallory hätte angesichts einiger Fragen vielleicht gezögert. Waters sah wieder auf den Fernseher, wo Eve ihre Präsentation beendete. Er konnte dieses Gesicht und diesen Körper nicht mit der Stimme in Einklang bringen, mit der er eben telefoniert hatte.
Er wusste nicht, was er tun sollte. Doch er wusste genau, was er nicht tun sollte: nach Bienville fahren. Während sich die Angst in seinem Innern zu einer Panik auswuchs, griff er nach dem Telefonhörer und rief in Linton Hill an. Rose hob ab. Mit mühsam beherrschter Stimme fragte er nach Lily. Er wusste nicht, was er zu seiner Frau sagen würde, aber er musste ihre Stimme hören.
»Lily ist mit ihrer Wandergruppe unterwegs«, antwortete Rose. »Und sie hat ihr Handy auf dem Küchentisch liegen lassen.«
Waters legte auf und ging zu seinem Zeichentisch. Im Moment sahen die wellenförmigen Bodenstruktur-Linien und die Zahlen auf der Karte für ihn ebenso fremd aus wie für einen Laien. Nervös ging er in seinem Büro auf und ab, nutzte die gesamte Fläche aus. Der Raum war mehr als dreihundert Quadratmeter groß, aber heute kam er ihm wie ein Käfig vor.
Er öffnete die Balkontür, trat hinaus und atmete die kühle Luft, die vom Fluss heraufwehte. Er blickte nach Süden auf die Biegung des Mississippi, hinter der Baton Rouge und New Orleans lagen, dann nach Norden, in Richtung Memphis und St. Louis. Er konnte Weymouth Hall von hier aus sehen, eine alte Südstaaten-Villa mit Witwengang, die einen Kilometer flussaufwärts auf einem Berg stand. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße von Weymouth Hall lag Jewish Hill, und unter den Eichen am Fuß dieses Hügels befand sich Mallorys Grab. Mallorys Leiche.
Wer, in Gottes Namen, wartete in Bienville auf ihn?
Er legte die Fotos und Zeitungen wieder in die Mappe und schloss sie in der untersten Schublade seines Schreibtisches ein. Dann holte er seine Schlüssel aus der Hosentasche und ging zum hinteren Treppenhaus des Büros. Sybil warf ihm einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts.
Er brachte nicht mal eine Lüge zu Stande.
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8
B ienville, das im Norden der Innenstadt einen halben Häuserblock einnahm, war eine Welt für sich. Das Erdgeschoss der neugriechischen Villa lag auf einem Hügel, acht Meter über der Straße; hohe Stuckwände, die sich neben der Fahrbahn erhoben, zeigten den Passanten ihr kahles Gesicht. Nur eine schmale Kiesstraße, die von der Wall Street abzweigte, führte unter dichtem Laubwerk hindurch zu den terrassenförmigen Gärten hinter der Villa – eine sonnendurchflutete Welt aus ausladenden Eichen, Sträuchern, Azaleen, Jasminbüschen und Bananenbäumen.
Eves schwarzer Lexus parkte unweit einer Durchfahrt in der Gartenmauer. Waters stellte seinen Land Cruiser gleich dahinter ab, sodass er Eves Wagen blockierte; dann ging er durchs Tor. Rechts von ihm ragte die hintere Wand der Villa auf. Die Mauern wurden von Giebelfenstern unterbrochen, und aus dem steilen Dach ragten mehrere Schornsteine. Linker Hand lagen verschlungene, von Pflasterwegen und schattigen Pfaden gesäumte Gärten; ihr Herzstück war ein Brunnen, umstanden von Statuen, die von deutschen Märchen inspiriert waren. Die reglosen Figuren der Mädchen und Jungen hatten nichts mit den Steinengeln auf dem Friedhof gemeinsam – sie fingen eine flüchtige Eigenschaft der Kindheit ein, eine Mischung aus Staunen und Langeweile und das Gefühl, dass die Zeit über den augenblicklichen Moment hinaus keinerlei Bedeutung hat.
Als Waters sich dem Haus näherte, ließ irgendetwas ihn aufblicken. Durch eines der Giebelfenster sah er die Silhouette einer Frau. Sie lehnte sich nach vorn und drückte die gespreizte Handfläche wie einen Seestern gegen die Fensterscheibe. Waters stockte das Herz. Durch die Verzerrung des uralten Glases sah die Frau beinahe wie Mallory Candler aus. Die Handfläche
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