Ewiger Schlaf: Thriller
bestand, dass sie strengste Vorsichtsmaßnahmen trafen: keine Anrufe zwischen ihren beiden Häusern, keine längeren Gespräche, wenn sie ihn übers Handy anrief, keine »überraschenden« Begegnungen im Einkaufszentrum oder beim Metzger. Dass sie solcher Dinge wegen besorgt war, gab Waters das Gefühl, dass irgendein dunkler Zweck hinter all ihrem Tun verborgen war, doch zu viel darüber nachzudenken hätte vielleicht den Zauber zerstört, in dem sie ihn gefangen hatte.
Eve fragte ihn oft nach seinen Schuldgefühlen. Seine Antworten überraschten sie, und sie schien seiner Ehrlichkeit in diesem Punkt nicht zu vertrauen. Seit Lily auf dem Ultraschall-Untersuchungstisch ihr Baby verloren hatte – und mit ihm ihre Leidenschaft –, hatte Waters sich alle Mühe gegeben, es Lily nicht zu verübeln, dass sie den Schmerz nicht überwinden konnte. Aber er war nur ein Mensch, und die tausend kleinen Erniedrigungen, die er ertrug, wuchsen sich letztendlich doch zu Bitterkeit ihr gegenüber aus. Als Monate und dann Jahre verstrichen, kämpfte er nur noch darum, dass aus der Bitterkeit nicht etwas Schlimmeres wurde. Er hatte geglaubt, es sei ihm gelungen. Doch jetzt, wo er all das erlebte, was Lily ihm versagt hatte – und was er sich selbst versagt hatte –, konnte er keine Schuld empfinden. Er hätte ein schlechtes Gewissen haben müssen, hatte es aber nicht. Was er mit Eve erlebte, brauchte er. Er hätte sich diese Ekstase mit Lily gewünscht, doch es lag außerhalb ihrer Macht. Lilys Selbst lag in Ketten, zu denen Waters keinen Schlüssel besaß.
Wenn er zu Hause war, ging er durchs Haus wie ein Fremder, ein Doppelagent, der an seine eigene Tarnung glaubte. Ich bin verheiratet, sagte er sich immer wieder. Ich bin Vater. Ich liebe meine Frau. Ich liebe mein Kind.
Und so war es auch. Abends saß er bei Annelise und hörte staunend zu, wenn sie ihm von ihrem Tag erzählte, an dem jedes Erlebnis, durch die Linse der Wahrnehmung einer Siebenjährigen gesehen, zu seinem spannenden Abenteuer wurde. Wenn er Annelise einen Gutenachtkuss gab, wärmte ihr Lächeln ihn, wie nichts sonst es vermochte. Doch jedes Mal, bevor er auch nur die Tür ihres Zimmers erreichte, sprudelten Gedanken an Eve in ihm hoch, die so unmöglich zu ignorieren waren wie Fieber. Das Verlangen, sie anzurufen, war beinahe unwiderstehlich, doch er dachte an ihr Verbot und zwang sich, bis zum nächsten Tag zu warten, wenn sie ihn per Handy anrief. An einem Abend jedoch überwältigte ihn die Furcht. Er ging zu einer Telefonzelle und rief sie zu Hause an. Eve war wütend, bis er ihr erklärte, wo er war. Sie traf ihn auf einer verlassenen Landstraße und schlief an Ort und Stelle mit ihm, und das Mondlicht spiegelte sich in ihren dunklen Augen.
Am nächsten Tag, als er die Mappe aus seiner Schreibtischschublade holte, um Mallorys Fotos anzusehen, blieb sein Blick auf dem ungeöffneten Bündel mit ihren Briefen ruhen. Dass er sie noch nicht angesehen hatte, war im Grunde Beweis genug, wie sehr er Mallorys Wiedergeburt ersehnte, ohne die dunklen Aspekte ihrer Persönlichkeit wieder auszugraben. Aber das war heute so unmöglich wie vor zwanzig Jahren. Hinter der heiteren Fassade, die Eve so sorgfältig zu bewahren versuchte, hatte bereits mehrmals ihre Unbeständigkeit aufgeblitzt.
Immer häufiger brachte sie während ihrer gemeinsamen Stunden Lilys Namen ins Spiel. Sie befragte ihn endlos über sie. Was hatte ihn ursprünglich an Lily angezogen? Warum hatte er sie geheiratet? Ähnelte Annelise mehr dem Vater oder mehr der Mutter? Eve stellte diese Fragen, als wären die Antworten nur von vorübergehendem Interesse, doch jedes Mal, wenn Waters etwas auch nur annähernd Schmeichelhaftes über Lily sagte, verhärtete sich Eves Gesicht auf eine Weise, die ihn bis ins Mark schaudern ließ. Noch beunruhigender war, dass sie ihn länger und länger im Haus halten wollte, je mehr Tage verstrichen. Zweimal fuhr er erst nach Einbruch der Dunkelheit aus der schmalen Kiesstraße, belastet von dem Wissen, dass Lily und Annelise zu Hause auf ihn warteten. Zuerst sorgte Eve dafür, dass er länger blieb, indem sie die Intensität des Sex’ steigerte, wenn der Abend näher rückte. Als Waters sich trotzdem losriss, kehrte sie die Strategie um und zögerte das Vorspiel hinaus, sodass er lange bleiben musste, um die Befriedigung zu bekommen, die er in den Tagen zuvor in der ersten Stunde nach seiner Ankunft gefunden hatte. Er spürte, dass Eve mit ihren raffinierten Spielen
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