Ewigkeit
die Uhr. In ein paar Minuten konnte sie ihren Zug besteigen und nach ihrem Platz suchen. In einer Stunde würde sie die Hälfte des Weges bis zur französischen Grenze zurückgelegt haben, und wenn sie aufwachte, würde sie schon fast in Berlin sein. Sie winkte einem Kellner, dass sie bezahlen wollte, dann sammelte sie ihre Sachen zusammen. Vielleicht lag es am Wein, aber nun verspürte sie eine eiserne Entschlossenheit, die Ermittlungen abzuschließen, die Susan White begonnen hatte.
Ein Kellner mit weißem Kummerbund brachte ihr die Rechnung. Auger kramte ihre Münzen hervor und war zufrieden, dass sie genügend fand, um ein angemessenes Trinkgeld einzuschließen. Lächelnd gab sie dem Kellner das Geld und machte sich bereit zum Aufbruch. Sie hatte beschlossen, dass es ihr besser gehen würde, wenn sie den Wein nicht ganz austrank.
In diesem Moment sah sie die Kinder.
Es waren zwei, die ruhig nebeneinander mitten im Gewühl standen. Der Junge hielt den dünnen Faden eines Jo-Jos in der Hand, während das Mädchen ein Stofftier an sich drückte, das aussah, als wäre es aus einer Mülltonne gerettet worden. Der Junge trug ein rotes T-Shirt und kurze Hosen, dazu weiße Socken und schwarze Schnallenschuhe, das Mädchen ein schmutziges gelbes Kleid und die gleichen Schuhe. Erst wenn man sie wirklich ansah, wurde klar, dass sie eigentlich gar keine Kinder waren, sondern Dämonen, deren Aussehen oberflächlich an Kinder erinnerte. Der Regen hatte ihre Schminke verwischt und verlaufen lassen. Die Reisenden schoben sich an ihnen vorbei, hielten jedoch stets einen gewissen Abstand, vielleicht ohne dass es ihnen bewusst wurde.
Auger verlor die zwergenhaften Gestalten aus dem Blick, als eine Menschengruppe ihr die Sicht versperrte. Sie schluckte und bemühte sich, die Nerven zu behalten. Vielleicht ging ihre Phantasie mit ihr durch. Vielleicht waren es doch nur Gassenkinder.
Als sich die Gruppe auflöste, waren die Kinder verschwunden.
Auger schloss erleichtert die Augen, dann trank sie schnell den Rest des Weins aus. Sie sagte sich, dass sie aufstehen und das Restaurant verlassen musste, weil der Zug wartete.
Es hatte keinen Sinn, jedes Mal in Panik zu geraten, wenn ein Kind vorbeikam. Paris war voller seltsamer Jungen und Mädchen, und nicht alle hatten die Absicht, sie zu töten.
Zwei Geschäftsleute, die vor dem Restaurant standen, entfernten sich. Plötzlich waren die Kinder wieder da. Sie standen reglos, doch nun waren sie der Tür wesentlich näher. Sie sahen Auger nicht an, aber sie beobachteten etwas oder jemanden mit der starren Aufmerksamkeit von Schlangen. Sie verschwanden hinter einer anderen Passantengruppe, und als die vorbeigegangen war, standen die Kinder wieder ein Stück näher. Nun richtete sich ihre Aufmerksamkeit eindeutig auf das Restaurant. Sie hatten ihre Witterung aufgenommen. Noch kurz zuvor hätte Auger die Chance gehabt, zu gehen, ohne dass sie bemerkt wurde, doch nun war sie in die Enge getrieben.
Auger betrachtete die Reste ihres Sandwiches, dann tat sie, als würde sie noch einmal die Speisekarte studieren. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass sie sich auffallend für das interessierte, was draußen vor sich ging. Die Kinder mussten nicht zwangsläufig wissen, wie sie jetzt aussah.
Als sie einen weiteren Blick zur Tür riskierte, stand nur noch das Mädchen draußen. Der Junge war nun im Restaurant und wartete an der erleuchteten Auslage, wo man die frischen Kuchen betrachten konnte. Ein paar Fliegen umschwirrten den Jungen. Sie waren offenbar mehr an ihm als an den süßen Leckereien interessiert.
Auger versank in der Nische. Sie hatte freies Sichtfeld zum Jungen, aber er schien sie noch nicht bemerkt zu haben. Ohne sich von der Stelle zu rühren, drehte er langsam den Kopf, wie eine Überwachungskamera. Auger hätte sich am liebsten hinter einer verspiegelten Wand versteckt, der ihre Nische von der nächsten trennte, aber sie wusste, dass der Junge es wahrscheinlich bemerken würde. Er blinzelte nur sehr selten, als müsste er sich immer wieder daran erinnern, es zu tun. In wenigen Sekunden würde er genau in ihre Richtung blicken, wenn sie sich nicht bewegte. Verspätet erinnerte sie sich daran, dass sie zwei Waffen dabeihatte – die Pistole und die schlanke Waffe, die sie dem Kriegsbaby im Tunnel abgenommen hatte. Dieses Wissen gab ihr etwas mehr Selbstvertrauen, doch dann verwarf sie sehr schnell die Idee, die Waffen benutzen zu wollen. Die Kinder waren
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