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Ewigkeit

Ewigkeit

Titel: Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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ihres Lebens mit dem ständigen Auf und Ab, mit den Höhen und Krisen, diese Erinnerungen zu einem dünnen Anstrich schrumpfen lassen. Außerdem war nicht einmal alles von E2 für immer verloren, falls etwas Schlimmes geschah, denn man hatte bereits sehr viel aus den Dokumenten erfahren, die ins Antiquitätenministerium geschmuggelt worden waren. Auch wenn sie ein gewisses Mitgefühl für die Menschen empfand, die auf E2 gefangen waren, bestand der Trick darin, sich bewusst zu machen, dass sie gar keine richtigen Menschen waren, sondern nur die abgelegten Schatten von Existenzen, die vor 300 Jahren gegenwärtig gewesen waren. Sie zu bedauern wäre so, als würde man um die Menschen trauern, die auf einer brennenden Fotografie abgebildet waren.
    Auger spürte, wie ihre Entschlossenheit immer mehr nachließ. Sie wollte nicht den Nachtzug nach Berlin nehmen, während die wesentlich einfachere Möglichkeit bestand, in Paris zu bleiben und auf die Rückkehr des Schiffes zu warten. Sie war hierher geschickt worden, um eine Aufgabe zu erledigen, und sie hatte es nach besten Kräften getan. Niemand konnte ihr einen Vorwurf machen, wenn sie jetzt aufhörte und zuerst an ihre eigene Sicherheit dachte.
    Das Taxi wurde langsamer und bog auf die Zufahrt zum Bahnhof ein. Der Fahrer ließ den Motor laufen, während er auf die Bezahlung wartete. Einen Moment lang konnte sich Auger nicht bewegen, musste in Unentschlossenheit verharren. Sie überlegte, ob sie den Fahrer bitten sollte, zu wenden und sie zu irgendeinem anderen Hotel in der Stadt zu bringen, wo Floyd und die anderen nie nach ihr suchen würden. Oder sie könnte weiter nach Plan vorgehen, den Bahnhof betreten und den Zug nach Berlin nehmen. Das bedeutete, dass sie sich viel tiefer in Europa hineinwagte, viel weiter in E2. Allein der Gedanke, den Zug zu besteigen, ließ einen Kloß in ihrer Kehle entstehen, als würde man sie auffordern, nahe an einen tiefen Abgrund heranzutreten, dessen Anblick sie schwindlig machte. Sie war nicht für eine solche Mission ausgebildet worden. Caliskan hatte sie – mehr schlecht als recht – instruiert, die Dokumente zu bergen, aber nicht gesagt, dass sie immer tiefer in diese Welt eindringen sollte. Es gab zweifellos Menschen, die für so etwas wesentlich besser qualifiziert waren als sie …
    Diese Vorstellung traf sie schmerzhaft wie eine Peitsche.
    »Du wirst es schaffen«, sagte sie sich und wiederholte den Satz wie ein Gebet.
    Der Fahrer drehte sich auf seinem Sitz herum, sodass sein Nackenhaar am Kragen seines Hemdes kratzte. Ihm war es gleichgültig, wie lange sie brauchte. Das Taxameter lief weiter.
    »Hier«, sagte Auger und drückte ihm ein paar Scheine in die Hand. »Behalten Sie den Rest.«
    Eine Minute später stand sie unter der Bahnhofskuppel aus Eisen und Glas und suchte nach einem Fahrkartenschalter. Auf dem Bahnsteig wimmelte es von Reisenden, die sich drängelten und umkreisten wie eine Masse aus grauen Bienen, jeder nur auf sein Ziel konzentriert, ohne auf die anderen zu achten. Dahinter warteten die Züge mit schnaufender Ungeduld und stießen Wolken aus weißem Dampf zum Dach empor. Während sie zusah, setzte sich ein anderer Nachtzug in Bewegung, der nach München, Wien oder irgendeiner anderen Stadt fuhr, die noch tiefer in der europäischen Nacht lag. Die roten Rücklichter gossen Blut auf die polierten Gleise.
    Eins nach dem anderen. Auger fand den Fahrkartenschalter und stellte erleichtert fest, dass die Schlange vor dem Fenster für internationale Verbindungen viel kürzer war als an den anderen. Sie hatte sich bereits geschworen, falls im Nachtzug keine Unterkunft mehr verfügbar war, würde sie einfach einsteigen und sich später mit dem Problem auseinander setzen. Bestechung war immer eine praktikable Möglichkeit, genauso wie Diebstahl. Aber es gab noch genügend Schlafwagenplätze im Zug, der um sieben Uhr ging – später, als sie sich gewünscht hätte, aber immer noch besser als gar nichts.
    Der Fahrkartenverkäufer würdigte ihre verschmutzten Hände und schwarzen Fingernägel kaum eines Blickes, als sie ihm das Geld reichte. Sie konnte sich vorstellen, dass die Angestellten gelernt hatten, viele Dinge keines Blickes zu würdigen.
    »Welcher Bahnsteig?«, fragte sie. Der Mann sagte es ihr und warnte sie gleichzeitig, dass der Zug erst dreißig Minuten vor Abfahrt bestiegen werden konnte.
    Damit blieb ihr noch fast eine Stunde. Sie nutzte die ersten zwanzig Minuten der Zeit, die Damentoilette

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