Ewigkeit
Stabilität und die Fähigkeit zur Selbsterhaltung erlangt hatten. Bis heute weiß niemand genau, wodurch es verursacht wurde. Manchmal ist von Sabotage die Rede, aber ich neige zu der Ansicht, dass es ein Unfall war – einer jener Zufälle, die einfach irgendwann passieren müssen.«
»Die digitalen Speicher stürzten ab«, sagte Auger. »Über Nacht breitete sich irgendein Virus oder Wurm in sämtlichen verlinkten Archiven des Systems aus. Texte wurden in unsinnige Zeichenfolgen verwandelt. Bilder, Filme, sogar Musik wurde zur Sinnlosigkeit entstellt.«
»Manche Archive überlebten«, sagte Cassandra. »Aber nach dem Vergessen konnten wir uns nicht mehr sicher sein, wie zuverlässig ihre Informationen waren.«
»Wir haben fast alles verloren«, sagte Auger. »Von der Vergangenheit waren nur noch Fragmente übrig geblieben. Es war, als würde man versuchen, die Gesamtheit des menschlichen Wissens aus ein paar Büchern zu rekonstruieren, die man aus einer brennenden Bibliothek gerettet hatte.«
»Was ist mit Institutionen?«, fragte Floyd. »Haben sie keine Originale von all dem Zeug aufbewahrt?«
»Sie hatten sich seit Jahren alle Mühe gegeben, ihre Papiersammlungen zu schreddern und zu vernichten«, sagte Auger. »Sie hatten es furchtbar eilig damit, nachdem man ihnen die Idee verkauft hatte, dass sie die vielen Bände, all dieses umständliche Volumen, auf eine einzige Mikrofiche-Karte oder eine einzige optische Diskette oder eine einzige Partition eines Flash-Speichers reduzieren konnten – oder was in der aktuellen Woche gerade als neuestes und bestes Speichermedium gehandelt wurde.«
»Auf ewig der perfekte Klang«, sagte Cassandra wie jemand, der einen Werbespruch aufsagte. »Zumindest war das die ursprüngliche Idee. Nur schade, dass es in der Realität nicht funktioniert hat. Jetzt verstehst du vielleicht, warum unsere Gemeinschaften unterschiedliche Wege gegangen sind. Die Stoker glauben daran, dass man nicht zulassen darf, dass es je zu einem neuen Vergessen kommt. Zu diesem Zweck enthalten sie sich sogar der Technologie, die ihnen die Unsterblichkeit ermöglicht.«
»Niemand ist unsterblich«, entgegnete Auger schroff. »Man ist nur so lange unsterblich, bis es zum nächsten Nanocaust oder zum nächsten Vergessen kommt oder bis die Sonne zur Nova wird. Und jeder von uns hat die Freiheit, zu den Kommunitäten überzulaufen, wenn es uns nicht gefällt, unter der eisernen Herrschaft der STOK zu leben.«
»Ein berechtigtes Argument«, sagte Cassandra. »Wir dagegen haben beschlossen, uns wegen der Vergangenheit keine grauen Haare mehr wachsen zu lassen. Wir haben sie schon einmal verloren. Warum sollen wir uns also darum sorgen, dass es erneut geschieht? Wir leben in der Gegenwart.«
Sie streckte die Hand aus und veränderte den Raum. Er dehnte sich beträchtlich aus, die weißen Wände zogen sich in alle Richtungen zurück, bis er die Ausmaße einer Kathedrale und dann eines Wolkenkratzers hatte. Der Raum erweiterte sich immer mehr, und schließlich waren die Wände kilometerweit entfernt. Die Decke schoss in den Himmel, bis sie das Blau einer Atmosphäre annahm und sich Wolken bildeten. Das offene Fenster des Raums zeigte nun die sternenübersäte Nacht.
Es war ein Bravourstück der geistigen Macht, aber Cassandra war noch nicht fertig. Sie kniff die Augen zusammen, worauf sich die fernen Wände flackernd mit gigantischen plastischen Details füllten. Kannelierte Säulen und Karyatiden so hoch wie Berge, Strebepfeiler und Bögen, die sich über absurde Weiten leeren Raums wölbten. Sie machte, dass sich Buntglasfenster in den Wänden öffneten, durch die Licht in einem Spektrum fiel, das Auger nie für möglich gehalten hätte. Cassandra musste ihr Gehirn auf einer elementaren Ebene frisiert haben, sodass ihre Wahrnehmung nun völlig anders organisiert war. Es waren nicht nur Farben, die Auger noch nie gesehen hatte (und die herzzerreißend schön waren), sondern sie konnte sie sogar hören, sie fühlen und sie riechen.
Sie hatte noch nie etwas erlebt, das so hübsch, so traurig und so wunderbar war.
»Bitte hör auf«, sagte sie überwältigt.
Cassandra ließ den Raum zu seiner früheren Ausdehnung schrumpfen. »Ich muss mich entschuldigen«, sagte sie zu Auger und zu Floyd, »aber ich dachte, dass eine kleine Demonstration besser illustrieren würde, was ich derzeit unter Leben verstehe. Das ist die Art von Gegenwart, die ich meine.«
»Ich habe nur eine einzige Frage«, sagte Floyd.
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