Ex en Provence
damit sich die Eltern abends genau auf den richtigen Platz setzen und einmal original die Perspektive ihrer Kleinen mitbekommen können.
Ich schreite also durch die Reihen, offiziell auf der Suche nach Jules Namensschild. Inoffiziell hoffe ich, vielleicht doch noch einen Erwachsenenstuhl oder meinetwegen auch ein Kissen auf dem Boden zu finden. Doch in diesem Moment wedelt in der dritten Reihe auch schon eine hilfsbereite Mutter mit ihrem Notizblock und deutet auf das Namensschild hinter ihr.
Julie
Bettinas Idee, Jule in Julie umzuwandeln, scheint bei meiner Tochter Zuspruch gefunden zu haben. Ist ja auch ein wirklich schöner Name, aber für meine Jule finde ich ihn doch etwas gewöhnungsbedürftig: »Dschüliiiie«, fast wie dieses »Dschüll« neulich von der Direktorin.
Ich nicke der Mutter zu und gebe höflich vor, auf den mir zugewiesenen Platz in der Reihe hinter ihr zuzusteuern. Trotzdem lasse ich meinen Blick weiter durch den Klassenraum schweifen. Ein Schild mit »Jule« kann ich aber nicht ausmachen.
Tja, und dann entdecke ich neben dem »Dschüliiiie«-Namensschild einen weiteren Zettel.
Vür Mama, fon Jule
Die eigenwillige Rechtschreibung und die exklusiv deutschen Ü-Pünktchen lassen keinen Zweifel mehr zu, dass ich Jules Platz erreicht habe. Und die mindestens zwei Dutzend Herzen signalisieren mir, dass mir Jule diese Wochenendkatastrophe verziehen hat – wahrscheinlich dank meiner Intensiv-Friedensinitiative mit Kickern, Spielen und Fernsehen satt.
Also lasse ich mich auf dieser Sitzgelegenheit in Melkschemel-Ausmaßen nieder und hoffe inständig, dass sie nicht unter meinem Gewicht zusammenbrechen wird.
Jetzt dreht sich die hilfsbereite Mutter, die mich an Jules Tisch gelotst hat und nun direkt vor mir sitzt, zu mir um und lächelt. »Hallo, ich bin Nathalie Dupont, die Mutter von Alex.«
Alex? Welcher Alex?
»Ihre Tochter sieht Ihnen ja sehr ähnlich! Mein Sohn hat mir Julie neulich schon einmal vorgestellt. Das hat Julie Ihnen doch sicher erzählt.«
Nein, keineswegs.
»Ach, natürlich, ja! Schön, Sie kennenzulernen. Ich heiße Anja Kirsch.«
In diesem Moment setzt sich eine andere Mutter neben diese Madame Dupont, die beiden begrüßen sich mit Küsschen rechts, Küsschen links und wieder Küsschen rechts. Durch das Fenster des Klassenraums entdecke ich Jule, die im Innenhof der Schule mit ein paar Jungs Fangen spielt, für die sich heute Abend wohl auch keine Betreuung gefunden hat. Ich spüre, wie sich der Rand der Stühlchen-Sitzfläche schmerzhaft in mein gut gepolstertes Hinterteil schneidet.
Meine neue Bekanntschaft aus Reihe drei wendet sich jetzt wieder mir zu. Sie erinnert mich an meine beste Freundin aus der Grundschule. Die habe ich zwar schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, aber so müsste sie jetzt aussehen. Ihre langen, dunkelbraunen Haare hat sie locker mit einer Spange hochgesteckt. Allerdings ist die Frau vor mir kleiner und dazu sehr zart. Französin eben.
»Und, haben Sie schon überlegt, ob Sie die Klasse vielleicht auf den Bauernhof begleiten können?«, fragt sie.
Bauernhof?
»Äh …«
Doch bevor ich mich bei der freundlichen Mit-Mutter erkundigen kann, was ich denn jetzt mal wieder nicht mitbekommen habe, begrüßt uns die Lehrerin, Mademoiselle Pointcarré. Sie ist eine für französische Verhältnisse unglaublich unscheinbare junge Frau mit kurzen, schwarzen Haaren und frei von jeder Schminke.
Die Eltern – zu 90 Prozent Mütter – verstummen, zücken Papier und Kugelschreiber und blicken die Grundschullehrerin erwartungsvoll an.
Der Platz neben mir bleibt leer. Ich schiele auf das Schild, auf dem in rosafarbener Schrift und mit vielen Schnörkeln »Chloé« geschrieben steht.
Mist! Ich habe es wohl verdrängt, aber natürlich sitzt Jule neben Chloé. Und damit einer von Chloés Erziehungsberechtigten neben mir . Vielleicht heute ja mal die Mutter. Damit läge sie ganz im Trend, wenn ich mich so umschaue. Doch weder Chloés Mutter noch ihr schrecklicher Vater sind weit und breit zu sehen. Dabei geht es jetzt los.
Zum Glück ist der Elternabend schon für 18 Uhr angesetzt gewesen, so dass die Französinnen anschließend flink ein Fünf-Gänge-Menü zaubern können und ich mit Jule noch ein bisschen Tischfußball spielen, ihr einen Teller mit belegten Broten und ein paar Tomatenspalten als Alibigemüse vorbereiten kann. Die Lehrerin schreibt jetzt die Tagesordnung des Elternabends an die Tafel, die allerdings Fünf-Gänge-Menü wie
Weitere Kostenlose Bücher