Ex en Provence
Lehrerin den wohl aufmerksamsten Blick, den sie an diesem Abend bekommen dürfte. Klar, er muss ja auch eine ganze Stunde aufholen.
Gleichzeitig flegelt er sich auf das Kinderstühlchen und macht sich dabei so breit, dass ich unwillkürlich an den äußersten Rand unseres Tischchens rücke. Ich fühle mich 30 Jahre zurückversetzt, als sich mein Grundschultischnachbar ähnlich platzhirschmäßig verhalten hat.
»Entschuldigung«, zische ich Eric entgegen und hole mir meinen Kugelschreiber zurück. »Ich hoffe, ich nehme Ihnen nicht zu viel Platz weg.«
Er schüttelt den Kopf, lächelt leicht – und bewegt sich keinen Millimeter. Stattdessen nimmt er sich meinen Notizzettel, fragt kurz »Darf ich?« und reißt sich auch schon ein Stück ab.
»Äh, Moment mal …«
»Den Kuli …«, sagt Eric nüchtern, schnappt sich den Stift und schreibt ein paar Worte von der Tafel ab. Das Einzige, was ich erkennen kann, ist »Anna Quiche«.
Ich!
Sozusagen.
In diesem Moment tauchen Jule und Chloé kichernd und eng umschlungen im Schulhof vor dem Klassenfenster auf. Sie winken uns zu.
Die Mutter von Alex hat sie auch gesehen und dreht sich zu uns um. »Die beiden sind ja wohl wirklich die besten Freundinnen«, flüstert sie. »Wie füreinander bestimmt!«
»Hm«, murmelt Monsieur Leroy.
»Hm«, grummele ich.
Mit etwas irritiertem Blick wendet sich Alex’ Mutter wieder der Lehrerin zu. Ich versuche, meinen Nachbarn so gut es geht zu ignorieren. Die letzten zehn Minuten dieses Elternabends verbringe ich deshalb nicht mehr wirklich auf diesem Ministuhl, der mein Gesäß immer mehr schmerzen lässt, sondern mit Philippe in Paris.
In meinen Träumen schlendere ich mit meinem Hugh Grant Arm in Arm über die Champs-Elysées, gemeinsam erklimmen wir den Eiffelturm, schippern in einem dieser neckischen Boote auf der Seine herum und geben uns auf Montmartre den Schwur der ewigen Liebe. Natürlich versinkt gerade in diesem Moment die Sonne hinter dem Häusermeer, ein Straßenmusikant lässt eine Geige erklingen, und Philippe schließt mich, Anja Kirsch, in seine Arme.
»Anja Kitsch«, höre ich meine taffe Schwester lästern. Meine Mutter höhnt dazu: »Ewige Liebe, wie langweilig!« Und ich frage mich, ob ich die ganze Sache nicht etwas überinterpretiere. Schließlich hat Philippe heute den ganzen Tag nicht angerufen. Ich natürlich auch nicht, weil mir dafür immer noch kein Vorwand und schon gar kein passender Text einfällt.
Glücklicherweise steuert Mademoiselle Pointcarré jetzt langsam, aber unverkennbar auf ein Ende des Elternabends zu. Ob ich als Belohnung für diese Tortur heute Abend vielleicht einmal eine Tüte Chips genauer unter die Lupe nehmen sollte? Mein Magen hat sich nach diesem Großeinsatz-Wochenende wieder beruhigt, und heute Morgen habe ich mich seit langem mal wieder auf den Gebäck-Korb unserer Vermieter gestürzt. Wäre doch zu schade, im Paradies zu leben und nichts davon zu haben! Und da der heutige Tag wegen des Croissants zum Frühstück, der Pizza heute Mittag und der kleinen niedlichen Nuss-Honig-Schnitte im Bioladen heute Nachmittag ohnehin nicht in die Geschichte der französischen Essdisziplin eingehen wird, kann ich ja wohl auch noch ein paar Chips genießen.
Jule wird begeistert sein! Gleich, wenn dieser Elternabend endlich zu Ende ist, ich mich endlich erheben kann …
Aber allein die Vorstellung, von diesem Mini-Stühlchen aus 50 Zentimetern Höhe wieder aufzustehen, ist schon eine Herausforderung, die mich an mein doch ziemlich vernachlässigtes Fitnesstraining erinnert und den Chips-Gedanken schnell wieder in die Hirnabteilung der verbotenen Fantasien zurückverbannt – direkt zu Philippes Liebesschwur im Sonnenuntergang von Paris.
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»Mama, was essen wir heute Abend?«, fragt Jule ziemlich unvermittelt, als wir uns nach Ende des Elternabends auf dem Schulhof wiedertreffen. Sie hält Chloé immer noch fest umschlungen, und die beiden geben wirklich ein lustiges Paar ab: Jule mit ihrem ziemlich herausgewachsenen und deshalb gar nicht mehr so kurzen Kurzhaarschnitt (»Ich will gaaaanz lange Haare haben, so wie Chloé«), ihrem Bayern-München-Fan-Pulli, den sie trotz ihrer innigen und leicht symbiotischen Verbindung zu Chloé gelegentlich immer noch trägt (schließlich ist das nach den Trikots und Jules Spielkünsten zu urteilen die Siegermannschaft auf ihrem Kickertisch), und ihren Slim-Cut-Jeans (das Ergebnis eines überraschenden Mode-Anfalls meiner Tochter mit folgendem
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