EXCESS - Verschwörung zur Weltregierung
Nachdem Sinshy den weißen Pileulus aufgesetzt hatte, drehte er sich zum Altar, kniete nieder und bekreuzigte sich. Dann nahm er den Weihräucher aus dem Schrank, füllte Olibanum hinein und zündete es an. Sofort breitete sich der Duft im ganzen Raum aus. Er entzündete die große Kerze und schritt das Weihrauchfass schwenkend, einmal um den Altar. Dann hängte er das Fass an die elektrische Schwenkvorrichtung, die neben dem Altar stand, und schaltete sie ein. Gleichmäßig bewegte sie den Weihräucher hin und her. Schließlich ging er zur neben der Holztür angebrachten Musikanlage und wählte sein Lieblingsstück. Erbarme Dich, Mein Gott, um meiner Zähren Willen! Die Stimme der Altistin erfüllte die Kapelle. Damit waren alle Vorbereitungen für sein Gespräch abgeschlossen.
Sinshy hatte sich vorgenommen, heute die große Lage zu besprechen – ein entscheidendes Jahr hatte begonnen. Es galt, Grundsätzliches zu erörtern. Außerdem wollte er für die Passagiere beten, die ihr Leben hoch über dem Pazifik – dem Friedensstifter – der guten Sache geopfert hatten. Sinshy wollte sein Gespräch mit einer dem Anlass entsprechenden Bibelstelle einleiten. Er stellte sich vor den Altar, schlug das Buch auf und verharrte einige Minuten mit aneinander gelegten Fingerspitzen im Gebet. Dann hob er die Arme und las:
» Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag. «
Nachdem er das erste Kapitel des Buchs Genesis fertig gelesen hatte, faltete er die Hände und verharrte minutenlang in Stille. Dann betete er laut: »Herr, das Jahr der Reise ist gekommen. Wie Dein erster Sohn erfülle ich in treuer Liebe Deinen Auftrag. Unaufhaltsam dreht sich die Erde und wickelt sich in den seidenen Mantel der Einheit, dank Deiner unendlichen Weisheit und Güte. Herr, erbarme Dich all jener Schafe, die schon ihr Leben gegeben haben für das große Ziel. Sie färben den seidenen Mantel der Einheit mit dem Blutrot der selbstlosen Aufopferung. Für eine Welt in Einheit, Freiheit und ewigem Frieden. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
Tränen der Rührung liefen über sein Gesicht. Er schluchzte leise. So verharrte er eine halbe Stunde in stillem Dialog mit Gott.
Im Flüsterton schloss er: »Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.«
18
Montag, 11. Januar 2016 I-Day – 243
20.30 Uhr dreißig Ostküstenzeit. Noch eine halbe Stunde bis zur Rede zur Lage der Nation. Unruhe machte sich breit in Washington. Zur Esoterik neigende Insider glaubten ein Zischen in der Luft zu hören. Das Weiße Haus hatte alles versucht, um den Coup bis zuletzt geheim zu halten. Aber es hatte eine undichte Stelle gegeben.
Adams’ Gegner streuten Gerüchte. In Blogs erschienen Worte wie unzurechnungsfähig und Amtsenthebungsverfahren . Im Fernsehen sprach man von einer möglichen politischen Überraschung und empfahl den Zuschauern, die Rede auf keinen Fall zu verpassen. Zeitgleich kündigte die Texas Times in einer Vorabmeldung zur morgigen Ausgabe sensationelle Enthüllungen aus der Vergangenheit der Präsidentin an.
Im Oval Office herrschte eine seltsame Ruhe. Friedhofsruhe , dachte Adams. Die Informationen, die sie in den letzten Minuten erreicht hatten, ließen nur einen Schluss zu: Es gab einen Verräter unter ihren engsten Mitarbeitern; außerdem hatten sich die Kreise, die befürchten mussten, durch die neue politische Linie ihre Pfründe zu verlieren, schon zum Gegenangriff formiert. Adams saß allein in ihrem Büro und ging noch einmal die Rede durch.
Ihr war bewusst, dass sie mit ihrem Vorgehen sämtliche Regeln brach, die sie brechen konnte. Eine Rede zur Lage der Nation war ein aufwendiges Projekt, das wochenlang vorbereitet wurde und an dem viele Stellen in Washington mitarbeiteten – normalerweise: Da waren die Redenschreiber der Exekutive, die Nachrichtendienste, das Außenministerium, das Pentagon. Oft wurde wochenlang um einzelne Sätze und Formulierungen gekämpft. Wie um die sechzehn Wörter, mit denen Präsident George W. Bush 2003
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