Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
siebenundzwanzig. Auf halb zehn ist er verabredet.
Sie liebt ihn, das ist keine Frage. Sie könnte reichere finden sie ist hübsch genug, erwachsenere, Männer, die mehr vorstellen. Sie weiß, wie bescheiden es bei ihnen zu Hause zugeht. Sie tut es also nicht etwa um Geld, sie tut es sicher um seiner selbst willen. Sonst hätte sie ihn auch nicht so geküßt.
Aber etwas wird er für sie doch aufwenden müssen. Er hat für das Mikroskop mehr gekriegt, als er gehofft hat. Wenn Germaine nicht wäre, dann hätte er sich Bücher gekauft für einen Teil des Geldes, den Rest hätte er der Mutter aufgedrängt. Recht ist es nicht, daß er es nicht tut.
Liebt er sie? Was ist das: Liebe? Er wird unruhig, wenn er sie sieht; wenn er an sie denkt, fängt er vor Begier zu schwitzen an, und in Gedanken zieht er sie hundertmal nackt aus. Er denkt viel zuviel an sie, und das Geld für das Mikroskop hat er auch zurückbehalten, für sie.
Sie sieht manchmal recht blaß und elend aus. Ob sie krank ist? Über Krankheiten hat er viel scheußliches Zeug gehört. Auch Gaston hat ihn gewarnt, auf seine lässige, weltmännischeArt. Frauen, die es gelegentlich machen, meint Gaston, seien gefährlicher als das übelste Bordell. Ob sie es mit andern treibt? Gaston hat ihm für alle Fälle ein Vorsichtsmittel gegeben. Aber geht denn das, daß er es anwendet? Ist das keine Beleidigung? Und wird er damit überhaupt zurechtkommen?
Der Tanz ist wieder zu Ende, das Paar kommt zurück. Beide schwitzen; es ist furchtbar heiß im Saal, wie heiß muß es einem erst sein, wenn man tanzt. Sie schnaufen, sie sehen vulgär und glücklich aus. Es ist gemein, wie sie einander anschauen und einander an den Händen halten. Mit Liebe hat das wenig zu tun, es ist nichts als der animalische Trieb, aber ihnen genügt es offenbar. Hanns hat auf einmal keine Lust mehr, das Mädchen weiterzuzeichnen. Sie schielt herüber, ein bißchen enttäuscht, daß er es aufgegeben hat.
Ob es das Richtige ist, wenn er es gerade mit Germaine das erstemal macht?
Und herrlich, in der Jugend Prangen,
Wie ein Gebild aus Himmelshöhn,
Mit züchtigen, verschämten Wangen
Sieht er die Jungfrau vor sich stehn.
Da faßt ein namenloses Sehnen
Des Jünglings Herz, er irrt allein,
Aus seinen Augen brechen Tränen,
Er flieht der Brüder wilden Reihn.
Errötend folgt er ihren Spuren
Und ist von ihrem Gruß beglückt,
Das Schönste sucht er auf den Fluren,
Womit er seine Liebe schmückt.
O zarte Sehnsucht, süßes Hoffen,
Der ersten Liebe goldne Zeit!
Das Auge sieht den Himmel offen,
Es schwelgt das Herz in Seligkeit.
Also, so ist es bestimmt nicht. Wenn man genauer hinschaut, sind es sogar besonders dumme Verse. Schiller hat von der Beziehung der Geschlechter nichts verstanden. Er warklassengebunden, darum sind diese Verse so albern und verlogen ausgefallen. Lieben ist eine Funktion wie jede andere, wie Essen und Trinken, und wenn die bürgerlichen Dichter soviel davon hergemacht haben, dann haben sie es getan aus nachweisbaren soziologischen Gründen. Das heißt, etwas mehr als Essen und Trinken ist es natürlich doch. Und wenn er bestimmt auch nicht daran denkt, aus seinen Augen Tränen brechen zu lassen und das Schönste auf den Fluren zu suchen, um Madame Chaix damit zu schmücken, so vulgär wie da zwischen dem Burschen und dem Mädchen wird es zwischen ihm und Germaine auch nicht hergehen.
Germaine gefällt ihm ungeheuer. Sie riecht warm und gut. Wenn sie einen anschaut, geht es einem heiß durch und durch. Und wie sie da auf dem Boden gekniet hat, diese Rundung hinten: abracadabrant, pflegt Gaston zu sagen. Reden tut sie viel, es kommt nie eine Pause zwischen ihnen auf. Aber ein wirkliches Gespräch kommt nicht zustande. Wenn er anfangen wollte, mit Germaine von den Dingen zu reden, die ihn wirklich angehen, von seiner neuen Welt zum Beispiel, da sieht er schwarz. Ihre Hände sind auch nicht schön. Wenn es richtige gute Arbeitshände wären. Aber so, mit den lackierten Nägeln, sehen sie weder damenhaft aus noch proletarisch, weder zart noch fest. Mutter trägt Handschuhe, wenn sie Hausarbeit verrichtet, und das ist ihm immer affektiert vorgekommen. Jetzt muß sie es wohl auch tun wegen ihrer Stellung bei Wohlgemuth. Vielleicht liebt er Germaine doch nicht. Die Kristallisation, die nach Stendhal das Kriterium der Liebe ist, scheint bei ihm nicht eingetreten zu sein, sonst stellte er keine so kritischen Betrachtungen über ihre Hände an.
Erst fünf Minuten nach
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